Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Wenn Frauen mit ihrem Peiniger isoliert sind

In der Schweiz wird alle zwei Wochen eine Frau infolge einer Gewalttat durch ihren Partner umgebracht. Die Isolation in der Coronakrise könnte das Problem der häuslichen Gewalt noch verschärfen. Keystone / Maurizio Gambarini

Was passiert hinter doppelt verriegelten Türen? Die Hoffnung, die Covid-19-Pandemie zu stoppen, besteht darin, dass die Menschen in ihren eigenen vier Wänden bleiben. Doch gibt diese Isolation gewalttätigen (Ehe)Partnern mehr Spielraum, so die Befürchtung. Organisationen zur Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt machen sich Sorgen.

Bleiben Sie zu Hause! Diese wichtigste Massnahme zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie wird überall verfügt, in der Schweiz wie in vielen anderen Ländern auch. Fast drei Milliarden Menschen weltweit sind angewiesen, zu Hause zu bleiben, um sich und andere zu schützen.

Eine Verfügung, die davon ausgeht, dass das Zuhause grundsätzlich ein sicherer und gemütlicher Ort ist. Dabei geht vergessen, dass Gewalt oft in die Privatsphäre vieler Menschen eindringt. Insbesondere in jene von Frauen. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit kann gerade für sie zum Alptraum werden.

«Wir befinden uns in einer widersprüchlichen Situation: Den Menschen wird gesagt, sie sollen zu Hause bleiben. Aber für die Opfer häuslicher Gewalt ist der Aufenthalt zu Hause gefährlicher als nach draussen zu gehen». sagt Myriame Zufferey, Direktorin von Solidarité FemmesExterner Link für die Region Biel und Leiterin des dortigen Frauenhauses.

«Für die Opfer häuslicher Gewalt ist der Aufenthalt zu Hause gefährlicher als nach draussen zu gehen». Myriame Zufferey

Seitdem die Regierung der Bevölkerung weitgehende Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auferlegt hat, um das Coronavirus zu bekämpfen, klingelt das Telefon der Hilfsorganisation für weibliche Gewaltopfer weniger häufig. Was als ein gutes Zeichen interpretiert werden könnte, ist leider keines, wie Zufferey sagt: «Wir glauben, dass Frauen, die jetzt mit ihrem Aggressor zu Hause eingesperrt sind, nicht mehr den nötigen Freiraum finden, um Hilfe zu suchen».

Um sich an Opferhilfe-Beratungsstellen zu wenden, die offen bleiben, müssen die Opfer zuerst der Kontrolle des gewalttätigen Partners entkommen können. «Noch ist es in der Schweiz möglich, einkaufen, zum Arzt oder spazieren zu gehen. Die Opfer sollten diese Freiheiten nutzen, um Alarm zu schlagen», rät Myriame Zuffrey. Die erste Nummer, die Menschen, die sich in Gefahr fühlen, anrufen können, ist die Polizei (117 in der ganzen Schweiz).

Zeugen müssen handeln

Während einer Quarantäne spielt die Solidarität mehr denn je eine zentrale Rolle. Freundinnen, Freunde, Nachbarn oder Bekannte haben die Pflicht, problematische Situationen aufmerksam im Auge zu behalten.

Beitrag von Schweizer Radio SRF zum Thema:

Externer Inhalt

«Zeugen sind manchmal die einzige Hoffnung, wenn die Opfer nicht mehr in der Lage sind, selber um Hilfe zu rufen. Hört man einen gewalttätigen Streit, muss man die Polizei anrufen, die dem Hinweis dann vor Ort nachgehen kann», sagt sie.

Zur Zeit schafft es die Organisation noch, die Dienstleistungen im gewohnten Rahmen anzubieten. Aber auch Zufferey und ihre Helferinnen mussten Massnahmen ergreifen, um die Richtlinien der Eidgenossenschaft zu befolgen. Die Beratung erfolgt nach Möglichkeit telefonisch. In der geschützten Unterkunft wurde die Anzahl der Plätze reduziert, um die zur Zeit erforderliche soziale Distanz zu respektieren.

«Wir arbeiten jedoch mit anderen Institutionen, Herbergen oder Hotels zusammen, um auf alle Anfragen reagieren zu können. Wir haben Ressourcen und werden den Betrieb nicht einstellen. Es ist wichtig, das in Erinnerung zu rufen», sagt Myriame Zuffrey.

Sollte die Situation jedoch noch lange andauern, befürchtet Solidarité Femmes, dass sie mit einem Personalmangel konfrontiert werden könnte. «Mitarbeiterinnen könnten erkranken und andere müssen zu Hause bleiben, um sich um ihre Kinder zu kümmern.»

Mehr

Zuffrey befürchtet auch, dass die Regierung gezwungen sein könnte, wie in Frankreich eine totale Ausgangssperre zu verhängen. «Dann würde es für uns noch schwieriger, unsere Arbeit zu tun.»

Macht Isolation gewalttätig?

Gibt es Situationen, die wegen der Isolation der Bevölkerung zu Hause ausser Kontrolle geraten könnten? Das ist zu befürchten. «Quarantäne ist eine Herausforderung für alle Familien. Sie erhöht den Druck auf Familiensysteme und kann bestehende Missstände verschlimmern», sagt sie.

Dazu kommt, dass die durch das Coronavirus verursachte Krise Familien in eine prekäre, finanziell unsichere Lage bringen kann, was den Stress und das Risiko von Konflikten weiter erhöht.

Um das Schlimmste zu vermeiden, ist es nach Angaben der Fachfrau wichtig, rechtzeitig um Hilfe zu bitten. Zufferey ruft daher alle dazu auf, Verantwortung zu übernehmen: «Auch jene Menschen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie gewalttätig werden, können Hilfe suchen, insbesondere bei Organisationen, die sich an die Täter wenden», sagt sie.

Im Allgemeinen rät sie den Menschen, wenn die Atmosphäre allzu drückend wird, nach draussen zu gehen, um etwas Sport zu treiben oder einfach frische Luft zu schnappen.

Gefährdet: Familien auf engem Raum

Auf nationaler Ebene zeigen die Zahlen noch keine Zunahme der häuslichen Gewalt. Doch während die Anrufe in Biel bisher eher zurückgegangen sind, verzeichnen andere Opferhilfe-Organisationen bereits einen Anstieg der Meldungen.

«Die grösste Gefahr besteht aber vor allem bei Familien mit vielen Kindern, kleinen Wohnungen, und Eltern, die keine gesicherten Arbeitsverhältnisse haben.» Pia Alleman

So zum Beispiel die Beratungsstelle, die von Pia Alleman in Zürich mitbetreut wird. «Es kann alle treffen. Die grösste Gefahr besteht aber vor allem bei Familien mit vielen Kindern, kleinen Wohnungen, und Eltern, die keine gesicherten Arbeitsverhältnisse haben. Sprechen sie keine der Landessprachen, wissen sie meist auch nicht, wo sie sich Hilfe holen können», sagte sie auf Fragen der Informations-Website WatsonExterner Link.

Der Bund ist sich des Problems bewusst und hat eine Task Force unter Leitung des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) eingesetzt. 

Sie hat die Aufgabe, die Situation regelmässig neu zu bewerten und die Massnahmen zu prüfen, die bei einer Zunahme der häuslichen Gewalt zu ergreifen wären. In einer PressemitteilungExterner Link weist das EGB darauf hin, dass die auf Opferhilfe spezialisierten Zentren in den Kantonen weiterhin aktiv sind.

In der Strafverfolgung hat der Schutz der Opfer für die Polizei nach wie vor oberste Priorität. «Bei Gewaltvorfällen kann die Polizei weiterhin die Wegweisung einer gewalttätigen Person von ihrem Zuhause verfügen und Gefährdungen von Kindern an die zuständigen Behörden melden. Die Anordnung von Kontakt- und Annäherungsverboten ist weiterhin möglich und die kantonalen Behörden kümmern sich weiter um Hochrisikosituationen», heisst es.

Schlechte Nachrichten aus China

Was die häusliche Gewalt betrifft, sind die Erfahrungen, die China während den im Kampf gegen das Coronavirus verfügten und unterdessen wieder aufgehobenen Ausgangssperren machte, alles andere als erfreulich.

Die Quarantäne hat das Problem verschärft, wie es in einem Artikel der Tribune de GenèveExterner Link heisst. «In der chinesischen Presse gibt es zahlreiche Zeugenaussagen über geschlagene, misshandelte oder entführte Frauen», schrieb die Westschweizer Zeitung weiter.

Auch in ItalienExterner Link, wo die Behörden strikte Ausgangssperren verfügten, ist eine Zunahme der Gewalt im häuslichen Bereich zu beobachten. Isolation kann manchmal das Schlimmste im Menschen ans Licht bringen.

In Gefahr? Adressen für Hilfsangebote in der Schweiz

Für gewaltbetroffene Personen:

Im Notfall:

Polizei, Telefon 117, www.polizei.ch

Medizinische Hilfe, Telefon 144, www.erstehilfe.ch

Informationen und Adressen für kostenlose, vertrauliche und anonyme Beratung in der ganzen Schweiz:

https://www.opferhilfe-schweiz.ch/de/Externer Link

Adressen von Frauenhäusern und anderen Schutzunterkünften:

https://opferhilfe-schweiz.ch/de/wo-finde-ich-hilfe/Externer Link

https://opferhilfe-schweiz.ch/de/was-ist-opferhilfe/schutz/Externer Link

https://frauenhaus-schweiz.ch/Externer Link

https://www.violencequefaire.ch/languages/de/de-disputeExterner Link

Für gewaltausübende Personen:

Beratung und Programme

http://www.fvgs.ch/home.htmlExterner Link

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft