Kinderpsychologin: «Unsere Isolation ist eine Luxus-Isolation»
Die Covid-19-Pandemie hat das Alltagsleben von Millionen Menschen durcheinandergebracht. Das verursacht nicht nur praktische Probleme, sondern kann auch Ängste und Sorgen auslösen. Besonders betroffen sind die Kinder. Die Einschätzung einer Kinderpsychologin.
Es ist ein schöner Frühlingstag, draussen ist es sonnig, im Garten umschwirren die Bienen gierig die frisch aufgesprungenen Blüten des wilden Pflaumenbaums. Meine siebenjährige Tochter möchte unbedingt mit ihren Freunden draussen spielen gehen. Ich frage sie, mit wem sie sich treffen möchte, und erinnere sie daran, dass es besser wäre, den Kontakt zu vermeiden. Das kommt nicht gut an: Sie schliesst sich in ihrem Zimmer ein, nicht ohne vorher die Tür zuzuknallen.
Szenen wie diese spielen sich vermutlich heutzutage in vielen Schweizer Familien ab. Die Eltern wissen oft weder ein noch aus. In der Whatsapp-Gruppe im Berner Stadtteil, in dem ich wohne, sind die Meinungen geteilt: Manche finden, man könne den Kindern nicht jegliche soziale Kontakte ausserhalb der Kernfamilie verweigern. Andere wünschen, dass alle strengere Regeln befolgen, um die Notlage schneller zu überwinden.
Für Kinder ist es eine schwierige Situation: In der Schweiz sind sie es gewohnt, sich ausserhalb des Hauses ziemlich frei zu bewegen, ohne allzu viele Kontrollen durch Erwachsene. Jetzt, wo die Schulen geschlossen sind, die Eltern Telearbeit leisten und die sozialen Kontakte reduziert werden müssen, haben sich die täglichen Rhythmen radikal verändert. Man ist sich nah, steht sich aber auch auf den Füssen herum.
Dazu kommen Ängste: Die Furcht vor einer ungewiss erscheinenden Zukunft, die Sorge um Familienmitglieder, Freunde oder Bekannte, die zur Risikogruppe gehören. Kinder sind sehr sensibel im Wahrnehmen der Ängste der Erwachsenen.
«Gegenwärtig haben die Erwachsenen eine grosse Verantwortung gegenüber den Kindern», bemerkt die Kinderpsychologin Marina Frigerio, die sich in ihrer langjährigen Tätigkeit als Therapeutin unter anderem mit «versteckten Kindern» von illegal in der Schweiz lebenden Immigranten beschäftigt hat, die in sozialer Isolation leben.
swissinfo.ch: Täglich werden wir mit Informationen über die Covid-19-Pandemie konfrontiert, die auch bei Erwachsenen Angst auslösen. Wie sollten wir mit Kindern darüber sprechen?
Marina Frigerio: Die aktuelle Epidemie ist keine ernsthafte Gefahr für Kinder, es handelt sich nicht um die Kinderlähmung. Deshalb denke ich, dass es einfacher ist, mit ihnen darüber zu sprechen. Wir müssen zweifelsohne versuchen, sie nicht zu erschrecken. Und man kann an ihre natürliche Solidarität appellieren. Ein Kind ist bereit, Opfer zu bringen, wenn es weiss, dass dies seinen Grosseltern oder anderen gefährdeten Menschen hilft.
swissinfo.ch: Sie bleiben in Kontakt mit den Kindern, mit denen sie vor der Epidemie zu tun hatten. Wie erleben sie diese Situation? Haben sie Angst?
M.F.: Paradoxerweise waren die Ängste grösser, als die Epidemie in China ausbrach. Seit sie uns erreicht hat, scheinen die Reaktionen rationaler zu sein. Natürlich kann das auch eine gewisse Verdrängung sein. Ein bisschen so, wie wenn ein kleines Kind die Augen schliesst und denkt, es sei unsichtbar. Auch unter den Erwachsenen gibt es einige, die sich so verhalten, als sei nichts geschehen, als hätten sie nicht gesehen, was in Italien oder im Tessin geschieht.
swissinfo.ch: Aber was können Erwachsene tun, um die Situation für Kinder weniger belastend zu machen?
M.F.: Wir müssen versuchen, das Alltagsleben so normal wie möglich zu gestalten. Unsere Isolation ist eine Luxus-Isolation: Wir leben in einer bekannten Umgebung, es fehlt uns nicht an lebensnotwendigen Gütern, wir sind nicht in Syrien oder Rojava. Die Aufgabe der Eltern ist es, die Kinder leben zu lassen, ihnen Ablenkungsmöglichkeiten zu bieten, mit ihnen zu spielen, sie malen zu lassen. Zeichnen ist ein hervorragendes Instrument zur Verarbeitung von Ängsten.
swissinfo.ch: Wie soll man mit Kindern über die Epidemie sprechen? Muss man ihnen alles sagen?
M.F.: Die Wortwahl hängt natürlich vom Alter der Kinder ab, aber die Wahrheit zu sagen ist das Beste. Kinder holen sich schliesslich Informationen aus dem Radio und den Zeitungen. Und sicher erzeugt dies auch Ängste um die Gesundheit der Grosseltern oder Eltern. Deshalb ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, sich nützlich zu machen. Wenn sie den Eindruck haben, dass sie dazu beitragen, die Situation erträglicher zu machen, können sie auch ihren Ängsten besser begegnen.
swissinfo.ch: Kann man von einer traumatisierenden Situation sprechen? Müssen wir langfristige psychologische Folgen für die Kinder fürchten?
M.F.: Es hängt davon ab, wie lange diese Situation anhält und wie Eltern und Gesellschaft reagieren. Es hängt davon ab, wie gut die Schule in der Lage ist, allen Kindern zu folgen. Und natürlich hängt es auch von den Kindern ab. Es gibt Kinder, die viel sensibler sind als andere. Wenn es den Erwachsenen gelingt, diese Sensibilität zu kanalisieren, sie zur Förderung der Solidarität der Kinder zu nutzen, dann kann die Krise auch zu einer Stärkung ihres Charakters beitragen.
Wenn sich die Situation verschlechtert, wenn die Zahl der Todesfälle steigt, werden natürlich auch die Kinder zunehmend mit Trauer um ihre Grosseltern oder andere Angehörige konfrontiert sein. Und diese Trauer kann nicht durch Rituale erfolgen, an die wir gewöhnt sind. Die Unfähigkeit zu trauern, kann ein grosses Problem sein.
In jedem Fall rate ich den Eltern, Kinderpsychologen zu konsultieren, wenn die Situation es erfordert.
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swissinfo.ch: Sehen Sie Ähnlichkeiten mit der Situation von Kindern von Sans-Papiers, mit denen Sie sich beschäftigt haben?
M.F.: Es gibt sicherlich Ähnlichkeiten in Bezug zur sozialen Isolation. Aber die Kinder sind jetzt bei ihren Eltern und müssen nicht befürchten, entdeckt und ausgewiesen zu werden.
swissinfo.ch: Sie beschäftigen sich oft mit Kindern aus Migrantenfamilien. Stehen diese derzeit vor besonderen Problemen?
M.F.: Die Einschränkung der Reisefähigkeit kann belastend sein. Wenn jemand in der Familie krank wird, ist es nicht möglich, sie zu besuchen. Und es wächst die Besorgnis über Familienmitglieder, die sich mit dem Virus infizieren und keinen Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung haben. Diese Ängste betreffen natürlich auch Kinder.
swissinfo.ch: Besteht nicht die Gefahr, dass vor allem Kinder von Migrantenfamilien unter den Folgen der Schulschliessungen leiden?
M.F.: Auch hier hängt es davon ab, wie lange diese Situation andauert. Wenn die Schulen nach den Osterferien wieder geöffnet werden, werden die Folgen nicht allzu gravierend sein. Dauert die Schliessung jedoch länger, besteht die reale Gefahr, dass die Ungleichheiten zwischen den sozialen Schichten und Kulturen in der Schweiz zunehmen. Der Fernunterricht erfordert die Einbeziehung der Eltern, wenn die Eltern die Sprache nicht gut beherrschen, sind sie in Schwierigkeiten. Die Schule wird sich besser ausstatten müssen, sie wird ein geeignetes System erfinden müssen, um allen Schülern und Schülerinnen gleiche Chancen zu garantieren und ihre Rolle der Integration zu erhalten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)
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