Der französische Patient – aufgewacht im Schweizer Spital
Als die Corona-Welle im März Europa überrollte, gerieten französische Spitäler ans Limit, und die Schweiz hatte noch Kapazitäten. Da erklärte sich die Schweiz bereit, französische Patienten aus der Grenzregion aufzunehmen. 49 Kranke wurden gebracht. Einer von ihnen war Jean-Paul Martin. Hier seine Geschichte.
«Ich bin in ein grosses, schwarzes Loch gefallen»: So beschreibt Jean-Paul Martin das künstliche Koma, in das er 16 Tage lang gesetzt wurde. Es war die Zeitspanne, in der er sich zwischen Leben und Tod befand.
Die Entzündungskrankheit Covid-19 brachte den 67-jährigen Franzosen in die Schweiz. Gut zwei Wochen lag er auf der Intensivstation des Spitals Freiburg: Intubiert, also an ein Beatmungsgerät geschlossen, damit seine Lungen ihre Arbeit tun und sein Immunsystem die Krankheit besiegen konnte.
Wer bezahlt?
Angesichts der Überlastung der französischen Krankenhäuser im Elsass wandte sich die Lokalpolitikerin Brigitte Klinkert an die Schweizer Kantone. Mit Erfolg: Insgesamt 49 französische Covid-19-Patienten wurden in der Schweiz hospitalisiert.
Deutschland versorgte 80 Patienten aus Frankreich. Während Deutschland die Kosten für den Krankenhausaufenthalt übernimmt, verzichtet die Schweiz auf eine solche Geste. Laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) werden «die Behandlungskosten der französischen Krankenkasse zu den gleichen Sätzen in Rechnung gestellt werden, wie sie für Schweizer Versicherte gelten».
Inzwischen erholt sich Martin in einem Krankenhaus im elsässischen Colmar von den Strapazen. Kurz vor der Übersiedlung in ein Rehabilitationszentrum konnten wir ihn telefonisch erreichen. Für uns lässt er seine Odyssee, die er nur teilweise mitbekommen hat, Revue passieren.
Versinken ins Nichts
Es war Mitte März, als Martin und seine Frau Monique in der kleinen elsässischen Stadt Münster praktisch gleichzeitig erkrankten. «Wir haben gehustet
und hatten Fieber», berichtet er. Die beiden sind so geschwächt, dass der Arzt zu einem Hausbesuch kommen muss. Dieser bemerkt sofort, dass Jean-Paul einen abnormal niedrigen Sauerstoffgehalt in seinem Blut hat.
Am 25. März wurde der Rentner ins Spital von Colmar eingeliefert. «Ich erinnere mich noch, dass ich am nächsten Tag mittags etwas gegessen hatte. Ab dann ist nichts mehr. Ich wachte 16 Tage später in Fribourg auf.» Er schätzt sich «glücklich», denn «manche Menschen liegen mehr als 50 Tage im Koma», sagt er. Heute kann er seine Erfahrung in Worte zu fassen: «Es ist ein tiefer Schlaf. Ich sagte mir, dass diejenigen, die sterben, nachdem sie ins künstliche Koma versetzt worden waren, nichts merken.»
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Erwachen in der Schweiz
Es dauert seine Zeit, bis Martin merkt, dass er sich in der Schweiz befindet. Er kennt das Nachbarland ein wenig von Verwandtenbesuchen. Seine Erinnerungen an die Behandlung im Spital Freiburg aber sind verschwommen. «In meinem Krankenhausbett stellte ich mir den Greyerzersee vor, an dem ich oft vorbeigefahren bin. Nach und nach kommen einem ein paar Sätze oder Gesprächsfetzen in den Sinn. Ich erinnere mich, dass eine Krankenschwester zu mir sagte: ‹Ich werde Sie rasieren, damit Sie wieder schön sind›.»
Das Pflegepersonal des Freiburger Spitals informiert Jean-Pauls Gattin Monique Martin täglich über den Gesundheitszustand ihres Mannes. «Das war eine sehr wichtige und beruhigende Verbindung. Ohne sie wissen die Familien nicht, was mit ihrem geliebten Menschen geschieht. In Frankreich ist es schwieriger, vom Spitalpersonal Informationen zu erhalten», sagt er.
Dankbarkeit
Am 16. April ist Martins Zustand wieder dermassen stabil, dass er ins Krankenhaus Pasteur in Colmar zurückkehren kann. Noch immer desorientiert und geschwächt, kann er sich aber nicht an die Überführung erinnern. «Ich habe noch nicht nach meiner Akte gefragt, um herauszufinden, ob ich mit einem Helilkopter transportiert wurde. Als ich in Frankreich ankam und gefragt wurde, wo ich mich befände, antwortete ich immer noch: ‹in der Schweiz›.»
Im Lauf der Tage gewinnt der ehemalige Angestellte der Stadtdienste Munster seine Kräfte allmählich zurück. Nun beginnt er, die verschiedenen Teile des Puzzles zusammenzusetzen. «Mir wird erst jetzt klar, was wirklich mit mir geschehen ist», sagt er. Martin schätzt sich sehr glücklich und dankt dem Pflegepersonal, das ihn in der Schweiz und in Frankreich betreut hat. «Ich danke auch den Politikern für ihre Bemühungen, den Transfer von Patienten zwischen den Ländern zu erleichtern», sagt er.
Einsamkeit
Körperlich geht es Jean-Paul Martin wieder besser. Was ihm aber zu schaffen macht, ist die Einsamkeit. Seit einem Monat lebt er in völliger Isolation, um das Risiko einer Ansteckung anderer zu verhindern. Er sieht nur die Betreuer, deren Gesichter von Schutzmasken verdeckt sind. «Ich vermisse menschliche Beziehungen sehr», sagt er.
Zwar kann er per Video mit seinen Familienangehörigen sprechen. Aber eine Umarmung vermag die digitale Kommunikation nicht zu ersetzen. «Wir hören einander, wir sehen einander, aber es ist mehr als einen Monat her, dass wir uns umarmt haben», sagt Jean-Paul Martin.
Während er sehnlichst darauf wartet, Frau, Tochter und seinen Enkel endlich wieder in die Arme schliessen zu können, plant er die Rückkehr nach Hause. Auch träumt der Rentner bereits wieder von Spaziergängen in der Natur.
Der Naturfreund
Das Wort Natur kommt oft vor im Gespräch. Martin ist sehr verbunden mit ihr. In der Freizeit engagierte er sich in einer Vereinigung zu deren Schutz. Nun sagt er, dass es die Natur gewesen sei, «die wollte, dass ich noch da bin». In Krisenzeiten «erinnert die Natur uns daran, dass wir nicht über ihr stehen, dass ein Virus alles auf den Kopf stellen kann, unser Leben, unsere Beziehungen, unsere Wirtschaft».
Wieder mit seinen Lieben vereint, um sich wieder um seine 88-jährige Mutter kümmern, auf den Wegen zu gehen, zu denen er auch schaut: So stellt sich Martin seine Rückkehr zur Normalität vor. «Ich werde das Leben noch mehr geniessen. Es gibt wenig Alltagssorgen, und es lohnt sich nicht, daraus einen Berg zu machen.»
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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