Wie Schweizerinnen und Schweizer die Ausgangssperre in Indien erleben
Seit dem 25. März befinden sich 1,3 Milliarden Menschen in Indien in der weltweit grössten Ausgangssperre. Damit will die Regierung die Ausbreitung des Coronavirus auf dem Subkontinent bekämpfen. Dort steckten auch einige hundert Schweizerinnen und Schweizer fest. Die meisten kehrten im Rahmen der Rückholaktion des Bundes in die Heimat zurück. Einige aber sind geblieben.
In Indien haben Schweizer Touristen letzte Woche den letzten Sonderflug der bisher grössten Rückholaktion des Schweizer Aussenministeriums genutzt, um nach Zürich zu zurückzukehren.
Es war dies die letzte Maschine im Rahmen der Rückholaktion, in deren Rahmen über 7000 Personen, die im Ausland blockiert waren, in die Schweiz heimkehrten.
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Grösste Rückholaktion in der Schweizer Geschichte
Der Flieger verliess Kalkutta am 25. April und machte einen Zwischenstopp im südindischen Cochin. Gemäss der Schweizer Botschaft in Delhi nutzten insgesamt 534 Personen die total drei Rückführungsflüge aus Indien nach Zürich: 234 Schweizer Bürgerinnen und Bürger, 120 Inhaber einer Aufenthaltsbewilligung und 180 Bürgerinnen und Bürger bzw. Bewilligungsinhaber aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) und Drittstaaten. Darüber hinaus kehrten 95 Schweizer Bürger mit Flügen zurück, die von EU-Staaten organisiert waren.
Unter den letzteren war Barbara Droux. Die 51-jährige Yogalehrerin aus Genf kehrte Ende April mit einem Flug der niederländischen KLM via Amsterdam zurück. Sie war am 3. März in Delhi angekommen, von wo sie nach Rishikesh weiter flog, einer Stadt etwa 200 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt.
Der Yoga-Kurs, für den sie sich angemeldet hatte, wurde nach Verhängung der Sperre durch die indische Regierung Modri unterbrochen und am nächsten Tag endgültig abgesagt.
«Ich hatte Glück, denn an diesem Tag wechselte ich das Gästehaus», sagte sie am Telefon im Taxi, das sie nach Delhi brachte. Gleich einen Steinwurf von ihrer neuen Unterkunft lag ein Takeway, wo sie einigermassen diskret ihr Essen kaufen konnte.
Zu Beginn der Ausgangssperre hatte das Restaurant morgens zwischen 7 und 10 Uhr und nachmittags bis 13 Uhr geöffnet. «Wir mussten aufpassen, dass die Polizei uns nicht erwischte, denn der Betrieb des Restaurants war nicht wirklich erlaubt. Wir durften nur zum Einkaufen kurz hinaus. Aber uns ging das Essen nie aus», so Droux.
Im Rachen der indischen Bürokratie
Anfang April erhält Barbara Droux von der Schweizer Botschaft in Delhi zwei Vorschläge zur Rückkehr in die Schweiz. Aber sie lehnt ab. Denn sie hatte ihren Rückflug schon gebucht: Am 13. April mit Turkish Airlines. Er wurde auf den 19. April verschoben, dann endgültig gestrichen.
Nun bietet ihr die Schweizer Botschaft zwei Rückflüge mit der KLM an – am 26. oder 28. April. Sie entscheidet sich für den ersten. «Es ist der dritte Flug, den ich gekauft habe», sagt sie.
Aber für die Genferin sind die Schwierigkeiten noch nicht ausgestanden. Jetzt gilt es, den Moloch der indischen Bürokratie zu überwinden. Denn um an den Flughafen zu gelangen, brauchen sie und ihr Taxifahrer einen Passierschein.
Das Dokument erhält sie von der Schweizer Botschaft, aber die indische Polizei muss es ausfüllen. Danach muss es an die Schweizer Vertretung zurück, damit es die indischen Behörden offiziell abstempeln können.
Der Helfer in der Not
«In einer Whatsapp-Gruppe gestrandeter Touristen konnte ich niemanden finden, der mir geholfen hätte, die Transportkosten zu teilen. Und ich konnte das Dokument nicht innerhalb der vorgegebenen Frist von vier Tagen ausfüllen lassen. Die Botschaft warnte mich, dass es zu spät sei, und ich stellte mir schon vor, dass ich meinen Flug erneut verlieren würde», beklagte sie.
Doch der Manager ihres Gästehauses hilft ihr und bringt sie auf eine Polizeiwache. Dort kümmert er sich darum, dass sie alle notwendigen Dokumente erhält. «Ohne ihn wäre ich immer noch in Rishikesh», sagt Droux. Dort sei sie sehr gut aufgehoben gewesen. Weniger Glück hatten Touristen in Südindien, die Opfer von rassistischen Anwürfen wurden.
Verheimlichte Symptome
Im Gegensatz zu Barbara Droux entschied sich Anne*, eine Mittdreissigerin aus Lausanne, die aus persönlichen Gründen ihren Namen nicht nennen möchte, in Indien zu bleiben. Sie war im vergangenen August Richtung Indien aufgebrochen in der Hoffnung, dort ihre gesundheitlichen Probleme mit Yoga überwinden zu können. Nach einem dreimonatigen Kursaufenthalt in Rishikesh setzte sie ihre Yoga-Ausbildung in Goa fort, wo sie drei Monate lang blieb.
Am 15. März, eine Woche vor der Verhängung der Ausgangssperre, flog sie nach Rishikesh zurück, um ihre Ausbildung dort fortzusetzen. «Das war eine sehr schwierige Zeit für mich. Fünf Tage vor meiner Reise hatte ich Schmerzen in der Lunge und eine Halsentzündung. In Goa gab es ziemlich viele Menschen, und ich hatte Angst, dass ich mich dort mit dem Coronavirus angesteckt hatte», sagt sie am Telefon.
Ihre Gesundheitsprobleme dauerten 24 Tage. Anne behandelt sich selbst, greift auf alternative Medizin zurück. Sie befolgt die empfohlenen Massnahmen in Bezug auf Abstand und Hygiene. «Ich war auf der Hut, denn in Rishikesh war noch kein Fall von Coronavirus gemeldet. Ich konnte niemandem von meinen Symptomen erzählen, weil ich unbedingt eine Isolation vermeiden wollte, denn in Indien wäre das kein Vergnügen gewesen.»
Anti-westliche Ausbrüche
Auf der Strasse hatte sie von den Einheimischen manchmal das Wort Corona aufgeschnappt, als sie vorbeiging. Dann setzten die Inder demonstrativ ihre Masken auf. «In diesem kleinen Bauerndorf in der Nähe von Rishikesh weiss die Mehrheit nicht viel über das Virus. Ihre Angst vor Fremden basiert auf Unwissenheit», sagt sie.
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Sobald sie geheilt ist, beginnt die Waadtländerin, sich um die Obdachlosen zu kümmern. Zusammen mit anderen Touristen sammelt sie auf Facebook Spenden, um Lebensmittel an die sozial Schwächsten zu verteilen. In den ersten Tagen der Beschränkung habe sie Höhen und Tiefen durchlebt. An einem Tag Hoffnung, am nächsten Tag Pessimismus.
«Wir fürchteten den Zusammenbruch der Wirtschaft, wir fürchteten, dass der Rassismus gegenüber Ausländern unerträglich werden könnte. In der Hochsaison kommen viele Menschen aus der ganzen Welt hierher. Ich war überzeugt, dass die Zahl der Coronavirus-Fälle explodieren würde. Das ist nicht der Fall, aber zum ersten Mal wurden in dieser Woche Menschen positiv getestet. Unsere Reisemöglichkeiten sind eingeschränkt», sagt sie.
Verlassen oder bleiben? Diese Frage hat sich Anne Dutzende Male gestellt, genau wie die anderen Schweizerinnen und Schweizer, die sich in Rishikesh in einer Whatsapp-Gruppe zusammengeschlossen haben. «Alles kann sich über Nacht ändern, aber ich bin hier glücklich, trotz des mangelnden Komforts im Vergleich zur Schweiz», sagt sie.
Von einem Tag auf den anderen das Aus
Christophe Perrin lebt seit neun Jahren in Mumbai. Dort betreibt der ausgebildete Gärtner zusammen mit seiner indischen Frau den Cateringservice «Gaia Gourmet». Die Coronakrise fegte wie ein Sturm über ihr Geschäft. Von einem Tag auf den anderen brach die Nachfrage völlig weg.
«Unser Geschäft lief bis zur Krise sehr gut, waren wir doch in Mumbai sehr bekannt. Zu unseren Kunden gehörten grosse Labels, Konsulate und Bollywood-Schauspieler. Aber da alle Events abgesagt wurden, mussten wir am 18. März schliessen, einige Tage, bevor die Regierung den Stillstand ankündigte. Wir haben unsere Mitarbeitenden gebeten, ihren Urlaub zu nehmen, und wir zahlen ihnen ihre Gehälter weiter aus», sagt der 40-jährige Waadtländer am Telefon.
Zusammen mit seiner Frau denkt er nun über die Zukunft ihres Unternehmens nach. Perrin geht davon aus glaubt, dass es länger dauern könnte, bis sich die Menschen wieder zu Events und Feiern versammeln könnten. «Wir werden wahrscheinlich ins Hausliefergeschäft einsteigen müssen. Auf diese Weise können wir unser Team von rund 15 festangestellten Mitarbeitenden neu zusammenstellen», erzählt er.
«Aber wir sind im Zweifel. Dennoch hoffen wir, dass es funktionieren wird. Ich bin aber sicher, dass die Catering-Events nicht vor Diwali (einem Hindu-Fest im November) wieder anziehen werden.»
Perrin nimmt es in der Zeit der Ausgangssperre zusammen mit seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter relativ ruhig. Er verlässt die Wohnung nur, um Lebensmittel zu kaufen. Der Laden, der gleich im Erdgeschoss liegt, wird per Lastwagen mit Reis und Gemüse beliefert.
Er kann zudem auch auf Vorräte ihres Geschäfts zurückgreifen, die für Gaia Catering nicht mehr gebraucht wurden. «Wir werden bis Ende Mai geschlossen bleiben. Ich will mit meinen Mitarbeitenden kein Risiko eingehen. Bevor wir unsere Aktivitäten wieder aufnehmen, werden sie alle getestet», sagt Perrin.
*Name der Redaktion bekannt
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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