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«Damit gräbt sich die Autoindustrie ihr eigenes Grab»

Keystone

PS-Boliden, Energiespar-Modelle, sportliche Geländewagen in allen Formaten und Assistenzsysteme als Vorschau auf das autonome Fahren: Genf sei eine Riesen-Show für neue Modelle, liefere jedoch keine Antworten für die Zukunft, sagt der Ex-Automanager Daniel Goeudevert im swissinfo.ch-Interview.

Mehr als 100 Welt- und Europa-Premieren stehen auf dem Automobilsalon Genf, der vom 6. bis 16. März zum 84. Mal stattfindet. Genf ist – neben Detroit – der einzige Autosalon, der jährlich in der Agenda steht.

swissinfo.ch: Der Salon sei einmalig, heisst es von Seiten der Veranstalter und der Industrie. Die Schweiz, ein Land ohne Hersteller, sei als neutrales Terrain besonders attraktiv als Salonstandort und Magnet für Neuheiten und Innovationen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Daniel Goeudevert: Nein. Genf ist für viele Automanager zwar eine lustige Reise, aber nicht unbedingt ein Salon, auf den man seine absolute Priorität legt. Ausgestellt werden traditionelle Produkte für eine überwiegend wohlhabende Kundschaft. Es ist in keinem Fall ein Salon der Innovationen.

Der Salon Genf muss unbedingt ein neues Image und eine neue Identität finden, sonst macht er sich sehr schnell überflüssig. Die Hersteller warten nicht mehr auf Genf, um etwas Neues zu präsentieren.

Zwei Mega-Trends am Auto-Salon (Tagesschau vom Fernsehen SRF vom 4.3.2014)

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Persönlich wünsche ich mir seit Jahrzehnten, dass die Schweiz, gerade, weil sie keine Hersteller hat, die Verantwortung übernimmt und aus dem weltbekannten Salon in Genf eine innovative Ausstellung für die Zukunft und nicht für die Vergangenheit macht.

Genf wäre dann der Ort, wo sich alle Anbieter neuer Technologien zusammenfänden und wo auch die Grossabnehmer – Behörden und Unternehmen – hinkämen, weil sie dort das Produkt der Zukunft fänden.

Der 1942 in Reims (Frankreich) geborene Wahlschweizer Goeudevert gehörte in den 1980er-Jahren zu den mächtigsten und erfolgreichsten Topmanagern der europäischen Automobilindustrie.

Zugleich gilt er als Querdenker und Paradiesvogel, weil er bereits in den 1980er-Jahren die immer PS-stärkeren Modelle anprangerte und sich für ökologischere Autos, Tempolimiten und den Ausbau des öffentlichen Regionalverkehrs einsetzte.

Goeudevert studierte in Paris Literaturwissenschaften, arbeitete zuerst als Lehrer und wechselte 1965 als Verkäufer in die Automobilbranche, wo er eine steile Karriere hinlegte. 1970 wurde er mit nur 28 Jahren Generaldirektor von Citroën Schweiz und anschliessend Generaldirektor von Citroën Deutschland, Renault Deutschland und schliesslich Ford Deutschland.

1991 berief ihn der damalige Chef des Volkswagenkonzerns, Ferdinand Piëch, zu seinem Stellvertreter. Zwei Jahre später musste Goeudevert  den Konzern wegen Meinungsverschiedenheiten mit Piëch verlassen.

1996 erschien die Autobiografie mit dem Titel «Wie ein Vogel im Aquarium – Aus dem Leben eines Managers», die 72 Wochen auf den Bestsellerlisten stand. Seither arbeitet Goeudevert als Buchautor und Berater.

swissinfo.ch: Bis zum selbstfahrenden Auto geht es nur noch wenige Jahre. Das zeigen in Genf die ausgeklügelten Assistenzsysteme, die Gefahren erkennen, automatisch bremsen, die Strassenbeschaffenheit erfassen und so weiter. Ist das nicht Zukunft?

D.G.: Nein, das ist der grösste Blödsinn des Jahrhunderts. Wenn ich in einem Auto sitzen muss und nicht fahren darf, weil das System die Verantwortung übernimmt, dann fahre ich lieber mit der Bahn. Das ist viel angenehmer, und ich kann wenigstens pinkeln gehen.

In letzter Konsequenz gräbt sich die Autoindustrie damit ihr eigenes Grab, denn die seit mehr als 100 Jahren propagierte Freude am Fahren fällt weg.

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swissinfo.ch: Zumindest der europäische Markt steckt in einer Absatzkrise. Die Industrie reagiert mit einer Flut von neuen Modellen und versucht, jede erdenkliche Nische zu besetzen. Macht das Sinn?

D.G.: Nein, das macht langfristig keinen Sinn. Das Problem liegt woanders, aber die Industrie wagt es nicht, den Quantensprung zu machen. Es gibt seit bald zwei Jahrzehnten vier klare Herausforderungen.

Erstens wird Treibstoff entweder knapper oder deutlich teurer. Zweitens: Die Umwelt-Problematik wird immer grösser und wird den Gesetzgeber dazu zwingen, Gesetze zu erlassen, die den Absatz von Fahrzeugen mit Verbrennungs-Motoren erschweren. Stichwort C02-Abgabe. Die Autoindustrie ist nicht allein für die CO2-Emissionen verantwortlich. Aber sie muss eine Vorreiterrolle spielen, weil fast jeder ein Auto besitzt oder in Zukunft besitzen wird.

Drittens: Gegen 90% der Weltbevölkerung werden in wenigen Jahrzehnten fast ausschliesslich in Ballungszentren wohnen. Das Auto ist für diesen Zweck nicht mehr das Auto, das man in den 1950er-Jahren entwickelt hat, um von Zürich nach Milano zu fahren. In den Städten sind die Distanzen kurz und Elektrizität gibt es an jeder Strassenecke. Da ist das Elektroauto eine Lösung.

Viertens hat die Bedeutung des Autos als Statussymbol bei den Jugendlichen deutlich abgenommen. In Japan können sich über 60% der Jugendlichen zwischen 18 und 25 ein Leben ohne Auto vorstellen. Das ist auch deshalb so, weil man in den grossen Zentren eigentlich nicht mehr fahren kann.

swissinfo.ch: Die CEOs der Industrie werden Ihnen sagen, sie stellten in Genf durchaus die Zukunft aus, vielleicht nicht jene, wie sie in 20, aber in den nächsten paar Jahren aussieht.

D.G.: Wenn ein CEO sagt, was er baue, das sei die Zukunft, dann weiss er ganz genau, dass das nicht stimmt. Die Herausforderungen, die ich erwähnt habe, existieren. Das sind Fakten. Die Anzahl der Autofahrer kann sich in wenigen Jahrzehnten von derzeit einer Milliarde auf zwei Milliarden verdoppeln.

Das CO2-Problem bleibt total ungelöst, wenn es so weitergeht, wie bisher. Die Industrie wartet auf ein Signal der Politik. Wenn aber die Politik das Elektroauto fördern und eine CO2-Abgabe einführen will, dann schickt die Industrie ihre Lobbyisten nach Brüssel, um das zu verhindern. Aber jeder weiss, dass etwas passieren muss.

Das Elektroauto ist mit Blick auf die Ballungszentren und die CO2-Problematik sehr interessant, aber die Industrie hat noch nicht kapiert, dass das ihre eigene Zukunft ist.

So will die Deutsche Post künftig nur noch Elektrofahrzeuge einsetzen. Das wäre ein Signal. Der Postchef hat mir erzählt, kein einziger Hersteller der Welt sei bereit gewesen, für die Post entsprechende Fahrzeuge zu entwickeln. Daraufhin hat die Universität Aachen ein Spezialprojekt entwickelt und gebaut. Jetzt hat die Post mit 30 Fahrzeugen angefangen, aber dereinst könnten das auch 30’000 sein.

Der 84. Automobilsalon Genf findet vom 6. Bis 16. März in den Palexpo-Hallen Genf statt.

Die Organisatoren erwarten mehr als 700’000 Besucherinnen und Besucher.

Genf gehört laut der Organisation der Automobil-Hersteller mit den Messen von Frankfurt, Detroit, Paris und Tokyo zu den 5 wichtigsten Veranstaltungen dieser Art.

Da die Schweiz kein Herstellerland ist, bietet Genf allen Ausstellern die gleichen Bedingungen. Die Aussteller schätzen das neutrale Terrain.

Rund 45% der Besucher kommen von ausserhalb der Schweiz, viele davon aus den Nachbarländern Deutschland, Frankreich und Italien.

swissinfo.ch: Kann man sagen, die Industrie presse die Zitrone aus, bis nichts mehr raus kommt?

D.G.: Sie haben nicht Unrecht mit dem Bild der Zitrone. Der Industrielle braucht einen von drei Faktoren, um seine Sicht der Dinge zu ändern: Eine Katastrophe wie Fukushima oder einen drastischen Einbruch der Märkte, griffige Massnahmen des Gesetzgebers wie eine europäische CO2-Abgabe oder Konkurrenten mit besseren Produkten.

Man muss einräumen, dass es auch im Bereich der Forschung und Entwicklung Abteilungen gibt, die versuchen, vorauszusehen, aber sie haben nicht immer die Mittel und die Freiheit das zu tun, was sie möchten. Ich will nicht sagen, dass das, was die Leute zur Zeit machen, alles Blödsinn sei. Aber es fehlt eine klare Linie.

Die Industrie steht in der Verantwortung, und sie muss Risiken eingehen. Das Thema Hybrid-Antrieb ist heute nur deshalb ein Thema, weil Toyota, einer der grössten Hersteller der Welt, 1998 unter dem Gelächter von allen anderen entschieden hat, ein Hybrid-Modell anzubieten und sich damit durchgesetzt hat.

Persönlich glaube ich, dass Hybrid-Antriebe die Lösung für die nächsten 20 oder 30 Jahre sein werden. Sie lösen zwar das Problem nicht, sind aber ein guter Beitrag dazu.

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