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Das Attentat ist jeden Tag präsent

Anne Ithen vor ihrer Wohnung in Rotkreuz. swissinfo.ch

Seit dem Attentat im Kantonsparlament Zug am 27. 9. 2001 hat sich Anne Ithens Leben radikal verändert. Getroffen von drei Kugeln überlebte sie den Amoklauf nur knapp. Seither ist sie im Rollstuhl. Ihr "neuer Körper" zwang sie zu einer "Kultur der Langsamkeit".

Seit dem Attentat vor 10 Jahren hat Anne Ithen den Ratssaal des Zuger Kantonsparlaments nicht mehr betreten. Damals erschoss Friedrich Leibacher innert zweieinhalb Minuten drei Regierungsräte und 11 Kantonsräte, 18 weitere Menschen wurden verletzt, darunter Anne Ithen, Vizepräsidentin, links-grüne Politikerin und Sekundarlehrerin.

Sie müsse den Saal nicht betreten, um das Attentat zu aufzuarbeiten. «Jeden Tag, wenn ich aufstehen müsste und nicht kann, sondern mich sitzend auf den Rollstuhl schieben muss, ist das Attentat präsent», sagt die 51-jährige Ex-Parlamentarierin.

Die drei Kugeln aus Leibachers Schusswaffe trafen Rückenmark und Lunge, die Bauchgegend, wo sich das Geschoss aufsplitterte, sowie ein Bein. Wochenlang schwebte sie in Lebensgefahr. Seit der schrecklichen Tat ist sie Paraplegikerin, lebt mit einem Drittel des Magens, einem zusammengeflickten und verkürzten Dickdarm, mit nur einer Niere, beide Lungenflügel wurden beschädigt.

Ich bin froh, dass er nicht mehr lebt

Nach den schweren Schusswunden war Ithens Körper monatelang, ja sogar jahrelang, geschwächt, sie wog nur noch 40 kg. Ohne ihre vorherige körperliche Fitness, den starken Lebenswillen und ihren fürsorglichen Lebenspartner, der ihr Essenshäppchen von zu Hause mitbrachte, hätte sie nicht überlebt, sagt sie heute.

«Ich hatte nicht einmal mehr die Kraft, die Zahnpasta-Tube aufzudrehen. Finger- und Zehennägel wuchsen nicht mehr, die Haare fielen aus, ebenso die Periode – alles war lahmgelegt. Zehn Monate lang war sie im Spital und in der Rehabilitation.

Die schrecklichen Minuten des Attentats hat Ithen noch in voller Erinnerung, aber nicht visuell. «Ich hielt die Augen bewusst geschlossen, um nicht zu sehen, was passiert. Ich wollte mir das Bild des Attentäters nicht einprägen.» Anne Ithen ist froh, dass der Täter nicht mehr lebt.

Die Angehörigen nicht vergessen

Heute denkt sie oft darüber nach, auch nach den Attentaten in Norwegen, was solche Ereignisse für die Überlebenden und für die Angehörigen der Opfer bedeuten.

«Ich weiss aus Erfahrung, dass man die Angehörigen sehr oft vergisst. Das ist ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdienen würde», sagt die ehemalige Kantons-Parlamentarierin.

Berufliche Integration

Anne Ithen wollte überleben, zurück in die Politik und auch wieder unterrichten, geriet aber, als die physischen und psychischen Kräfte schwanden, in eine Phase der Depression. «Ich glaubte nicht mehr, dass sich eine befriedigende und funktionierende Realität herausbilden könnte.» 2002 reichte sie ihren Rücktritt aus der Politik ein.

Knapp ein Jahr nach dem Attentat fing sie wieder an, an der Oberstufe Rotkreuz zu unterrichten. «Die Schüler akzeptierten mich als Lehrerin im Rollstuhl, ich hatte aber mehr Mühe mit der Disziplin, wohl weil mein Auftritt weniger dynamisch war.»

Das Unterrichten in grossen Klassen befriedigte sie nicht mehr, weil sie methodisch im Vergleich zu früher viel eingeschränkter war. Heute arbeitet sie weiterhin als Lehrerin mit Jugendlichen, aber nur in Fächern, wo kleinere Gruppen möglich sind, mit denen sich auch im Rollstuhl didaktisch viel gestalten lässt. Andererseits erteilt sie Erwachsenen Fremdsprachen-Unterricht.

«So habe ich einen lohnenden Mix gefunden, der mich wieder mit Begeisterung unterrichten lässt.» Zur Arbeit ins 200 m entfernt gelegene Schulhaus fährt sie im Rollstuhl, bei Schnee und Eis wird sie von Kollegen abgeholt.

Begegnungen dank Langsamkeit

Hart war und ist für Anne Ithen, die immer gerne in der Natur unterwegs war, auf Berge und Gletscher stieg und generell ein temporeiches Leben liebte, sich an ihren «neuen» Körper zu gewöhnen und in Langsamkeit zu leben.

Die Langsamkeit habe aber auch Vorteile. «Man kommt oft ins Gespräch mit anderen im Langsam-Verkehr: mit Kindern, älteren Leuten, Behinderten, Leuten mit Hunden.» Zudem habe sie Zeit, sich die Namen der Pflanzen zu nennen, an denen sie langsam vorbeifahre.

Seit ein paar Jahren fährt Ithen auch wieder in die Berge, – mit ihrem Swisstrac, einem Zuggerät für Rollstuhlfahrer, über kiesbedeckte Strässchen. «Ich geniesse es, wenn ich eine SAC-Hütte erreiche. Früher war es ein Startpunkt für eine Bergtour, heute ist es das Ziel. Dafür habe ich mehr Zeit für die Pflanzenwelt.»

Optimistin und Realistin

Wirklich gewöhnt an das Leben im Rollstuhl hat sich Anne Ithen vielleicht noch nicht. Dennoch hat sie die neue Realität ohne zu hadern angenommen.

«Ich galt immer als Oberoptimistin und bin eher der Typ, der versucht, aus der Situation etwas zu machen, als in der Vergangenheit zu wühlen.» Auch wenn sie über eine Zeitlang apathisch gewesen sei und nicht mehr gelächelt habe, heute sei sie wieder derselbe Mensch wie früher.

Aber das Attentat ist ihr allgegenwärtig: Sie erschrickt, wenn eine Tür ins Schloss fällt, sie sitzt ungern mit dem Rücken zur Tür. Und nachts im Schlaf träumt sie immer wieder von Bedrohungen durch Feuer oder andere Naturgewalten, denen sie wegen ihrer Langsamkeit wehrlos ausgeliefert ist. Von Schusswaffen träumt sie nicht.

Am 27. September 2001 stürmte Friedrich Leibacher in den Saal des Zuger Kantonsparlaments. Er war mit Sturmgewehr, Pistole und einer Pumpaction bewaffnet.

Innert gut 2 Minuten gab er über 90 Schüsse ab und richtete sich am Schluss selbst.

3 Regierungsräte und elf Kantonsräte wurden getötet, 18 Ratsmitglieder sowie Medienleute teils schwer verletzt.

Der damals 57-jährige Zuger war vorbestraft und lieferte sich mit den Behörden einen jahrelangen Rechtsstreit.

11.9.: In den USA richten Selbstmord-Attentäter mit drei Flugzeugen ein Blutbad und Chaos an: Etwa 3000 Menschen kommen in New York und Washington sowie beim Absturz eines vierten gekaperten Flugzeugs ums Leben.

27.9.: Im Kantonsparlament von Zug erschiesst ein Amokläufer 14 Personen und richtet sich danach selber.

2.10.: Die Flugzeuge der nationalen Fluggesellschaft Swissair bleiben wegen Insolvenz überall auf der Welt am Boden (Grounding).

24.10.: Nach dem Zusammenstoss zweier Lastwagen im Gotthard-Strassentunnel kommt es zu einem Brand. 11 Menschen sterben.

24.11.: Beim Absturz eines Crossair-Flugzeugs auf dem Weg von Berlin nach Zürich kommen bei Bassersdorf in Flughafennähe 24 von 33 Passagieren und Crewmitgliedern ums Leben.

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