«Das IKRK muss täglich beweisen, dass es total neutral ist»
Wie die multinationalen Konzerne breitet sich auch das IKRK international aus. Mit einem um 25% aufgestockten operationellen Budget erhält die humanitäre Organisation die nötigen Mittel, um auf die sich verschärfenden Krisen und bewaffneten Konflikte zu reagieren. Erklärungen von Yves Daccord, Generaldirektor der Genfer Institution.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) plant gewisse Dienste von seinem Genfer Sitz nach Serbien und auf die Philippinen zu verlegen. Der Sozialplan, der für die betroffenen Mitarbeiter abgeschlossen wurde, tritt am 1. Januar 2015 in Kraft. Die Reorganisation erfolgt über vier Jahre.
IKRK in Zahlen
Hauptsitz: 988 Angestellte, darunter 49% Schweizer
– Betrieb: 234 Personen
– Finanzen und Logistik: 210
– Personal-Abteilung: 151
– Kommunikation und Informationsmanagement: 191
Vor Ort: 12’540 Angestellte, darunter etwa 15% Schweizer
Delegationen weltweit: Über 100 in 84 Ländern
49% der Mitarbeiter am Genfer Sitz sind Schweizer Staatsangehörige. Insgesamt arbeiten beim IKRK Leute aus 126 Nationen, das sind zweimal mehr als vor zehn Jahren.
Yves Daccord war Leiter der IKRK-Kommunikation, bevor er 2010 den Posten des Generaldirektors übernahm.
swissinfo.ch: Wieso kommt es zu diesen Veränderungen?
Yves Daccord: Wir haben eine neue Strategie für die kommenden vier Jahre entwickelt. Wir haben es laut unserer Einschätzung künftig mit einem schwierigeren Umfeld zu tun, mit mehr und länger anhaltenden Konflikten und Krisen. Die Bevölkerungen, die wir erreichen wollen, werden mehr Hilfe brauchen.
Denken wir nur an den Krieg in Syrien, der sich bereits in den vierten Winter zieht, Syrien, ein Land, dessen Wirtschaft am Boden liegt. Oder Liberia, das von der Ebola-Epidemie heimgesucht wird und gleichzeitig stark de-strukturiert ist.
Wir sind also das Risiko eingegangen, unser operationelles Budget gegenüber jenem von 2014 um 25% auf 1,4 Mrd. Franken zu erhöhen. Vor zwei Jahren lagen wir bei rund 900 Millionen Franken.
Wir werden auch unsere Personalressourcen erhöhen – auf 14’500 Personen für das kommende Jahr, heute sind es 13’500. In diesen Aussichten werden wir unsere Ressourcen so intelligent wie möglich bewirtschaften müssen: Wir befinden uns in einem Prozess der Umverteilung der Ressourcen, nicht von Einsparungen.
Das IKRK wird eine globale Organisation, die in der Lage sein muss, 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche zu arbeiten. Und dies in einem Aktionsfeld, das sich von den Fidschi-Inseln im Pazifik über Lateinamerika bis nach Afrika zieht.
swissinfo.ch: Was bedeutet dies für den IKRK-Sitz in Genf?
Y.D.: Der Genfer Sitz wird absolut zentral bleiben. Je globaler unsere Organisation wird, desto mehr gewinnt die Genfer Verankerung bezüglich Identität und strategischer Leitung an Bedeutung.
Ich muss garantieren, dass wir am Sitz in Genf Mitarbeiter mit entsprechendem Profil haben. Sie müssen in der Lage sein, die Operationen zu leiten, unsere Aktivitäten der humanitären Diplomatie durchzuführen sowie ein hohes Niveau an juristischen Gutachten zu wahren. Ein Teil unserer Dienste, so etwa der Informatikdienst, wird nach Belgrad verlegt, andere nach Manila, wo wir bereits seit den 1990er-Jahren einen Teil unserer Buchführung betreiben.
swissinfo.ch: Welches sind Ihre Rekrutierungskriterien?
Y.D.: Wir sind eine multidisziplinäre Organisation und suchen hochspezialisierte und kompetente Leute. Von 100 Delegierten in erster Mission haben als Beispiel 12% die grundlegenden Sprachkompetenzen, beherrschen also Englisch und Französisch. 88% sprechen jedoch mehr als drei Sprachen, darunter etwa Thai, Urdu oder Arabisch.
Die IKRK-Delegierten arbeiten nämlich immer weniger mit Übersetzern, denn sie müssen in einer schwierigen Welt in der Lage sein, zu kommunizieren und sich direkt mit den betroffenen vor Ort austauschen zu können.
Um die Personen mit dem geeigneten Profil finden, rekrutieren wir im Mittleren Osten, in Lateinamerika, in Kanada, aber auch in der Schweiz und anderswo in Europa.
swissinfo.ch: Wieso braucht es denn einen Sozialplan?
Y.D.: Um effizient zu sein und die Zunahme unseres Budgets am Sitz zu bewältigen, müssen wir in den nächsten Jahren eine Anzahl Stellen auslagern. Jede Person, die von einem Arbeitsplatzverlust betroffen ist, profitiert von besonderen Bedingungen. Wir haben einen Gesamtarbeitsvertrag und einen Personalverband, mit dem wir im Vorfeld verhandelt haben, denn wir sind ein verantwortungsvoller Arbeitgeber.
swissinfo.ch: Hat die Globalisierung des IKRK vor allem mit der zunehmenden Zahl an Interventionsschauplätzen zu tun?
Y.C.: Wir haben in der Tat immer mehr Operationen. Wir sind in 84 Ländern präsent. Vor allem aber polarisiert sich die Welt seit dem 11. September 2001 immer mehr.
Zwischen den grossen Ländern gibt es keine internationalen Übereinstimmungen mehr. Es gibt nicht mehr ein oder zwei Länder, welche die Agenda diktieren. In dieser spannungsgeladenen Welt sind Vertrauensverhältnisse immer seltener. Die Fähigkeit, diese komplexen Situationen zu verstehen ist wichtiger denn je.
Die IKRK-Operationen finden zu fast 70% in muslimischen Ländern statt. In dieser Zeit der Polarisierung muss eine Organisation mit dem Rotkreuz-Emblem fähig sein, Tag für Tag zu zeigen, dass sie nichts mit dieser Polarisierung zu tun hat und total neutral und unparteiisch ist.
Hätte ich nicht Mitarbeiter unterschiedlicher Herkunft, dann wäre unsere Präsenz in Syrien oder Irak sehr begrenzt. In Somalia könnten wir nicht eingreifen. In Syrien oder Irak etwa können wir Türen öffnen. So haben wir in Syrien ein internationales Team in Aleppo, nicht nur in Damaskus.
In Libyen ist es völlig anders, das Land ist schwer zu verstehen, völlig neu für uns. Denn es braucht Jahre, bis man ein Land verstehen kann. Hinzu kommt, dass in Libyen ein totales Chaos herrscht. Das Land ist extrem zersplittert.
swissinfo.ch: Müssen Sie Ihren Tätigkeitsbereich angesichts der lang anhaltenden Krisen ausweiten?
Y.D.: In erster Linie intervenieren wir in gravierenden Krisensituationen, bei Krieg oder grösseren humanitären Krisen. Es stimmt aber, dass wir seit rund zehn Jahren auch in langwierigen Krisen eingreifen, etwa in Palästina, im Sudan.
Unsere Teams müssen also auf dringende Bedürfnisse reagieren, aber auch auf chronische Probleme. Wir sind jedoch logischerweise nicht in der Lage, auf alle Fragen zu reagieren. Angesichts der chronischen Probleme müssen wir die Mechanismen des Wiederaufbaus und der Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung berücksichtigen
Dazu ein Beispiel: Als ich beim IKRK anfing, gab es kein Team von Veterinären. Heute schon, in der Sahelzone, in Somalia und anderswo, denn wir haben gemerkt, dass es völlig sinnlos war, gewissen Nomadenvölkern Nahrungsmittel oder «klassische» humanitäre Hilfe zu bringen – denn sie litten an einer Kombination der Folgen des Klimawandels und auch bewaffneter Konflikte. Was ihnen wirklich hilft, ist, wenn man sich um ihr Vieh kümmert – denn die Tiere dienen als Bank, aber auch als Speisekammer.
swissinfo.ch: Aber gehören diese Aufgaben nicht in den Bereich der Entwicklungshilfe-Agenturen?
Y.D.: Die Agenturen für Entwicklungszusammenarbeit wollen eine Situation verändern. Das ist bei uns nicht der Fall. Die Agenturen intervenieren, um ein System weiter zu entwickeln, in der Bildung, im Finanzbereich, bei der Kultur, etc. Das ist überhaupt nicht die Aufgabe des IKRK.
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
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