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Das Kruzifix als Zankapfel

In Schweizer Schulzimmern hängen noch viele Kruzifixe. Keystone

Die Kontroverse um das Kruzifix in Schulzimmern an verschiedenen Orten schlägt hohe Wellen. Obwohl ein Bundesgerichtsurteil festhält, dass dies gegen die religiöse Neutralität verstösst, plädiert ein alt Bundesgerichtspräsident für mehr gesellschaftliche Toleranz.

Ein Lehrer der Orientierungsstufe in Stalden, Kanton Wallis, ist jüngst fristlos entlassen worden. Er hatte sich unter Berufung auf einen Entscheid des Bundesgerichtes dagegen gewehrt, dass in den Schulzimmern, in denen er unterrichtet, ein Kreuz hängt.

Im Kündigungsschreiben der Schulbehörde wird die Entlassung indessen «mit der Störung des gegenseitigen Vertrauensverhältnisses wegen verschiedener Vorkommnisse» begründet.

Im Jahr 1990 hatte das Bundesgericht entschieden, dass das Anbringen von Kruzifixen in den Schulzimmern der Primarschule in der Tessiner Gemeinde Cadro gegen die verfassungsmässig vorgeschriebene Neutralität der öffentlichen Schule verstösst.

Für den entlassenen Lehrer, der auch Präsident der Sektion Wallis der Schweizer Freidenker-Vereinigung ist, ist sein Fall mit demjenigen von Cadro vergleichbar. Die Schulbehörde verweist ihrerseits auf das Walliser Schulgesetz, wonach sich eine Schule bemühen solle, den Schüler auf «seine Aufgabe als Mensch und Christ» vorzubereiten.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Anders in Triengen, Kanton Luzern: Die Primarschule in der Gemeinde hat auf Druck eines Vaters, der sich auf das Bundesgerichtsurteil von 1990 berief, ihren Widerstand aufgegeben und zwei Kreuze im Klassenzimmer entfernt.

«Das Bundesgericht hat erkannt, dass Andersgläubige oder solche ohne eine Religion verlangen können, dass im Schulzimmer ein Kreuz mit dem Korpus jedenfalls entfernt werden muss», sagt alt Bundesgerichtspräsident Giusep Nay gegenüber swissinfo.ch.

«Ich bin da ganz klar der Auffassung, man sollte den juristischen Grundsatz, wo kein Kläger, da kein Richter, anwenden. In solchen heiklen Fragen wie dem multireligiösen Zusammenleben braucht es Toleranz», so Nay.

Es brauche Lösungen, die auch der konkreten Situation an verschiedenen Orten angepasst sein müssten. «Wenn es aber einen Kläger gibt, dann soll das Bundesgerichtsurteil gelten. Dann muss im Raum, wo dessen Kinder in die Schule gehen, das Kruzifix entfernt werden.»

Die Schulbehörden können diesen Schritt auch von sich aus machen, auf demokratischem Weg in der Gemeinde, wo in aller Regel Gemeindeautonomie herrscht.

«Da würde dann kein Klagerecht aus den Grundrechten – das sind Freiheitsrechte, also Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates – gelten», sagt Nay. Man könne aus der Religionsfreiheit keinen Anspruch ableiten, dass das Kruzifix präsent sein müsse. «Jedenfalls nicht in der Schule, die ja grundsätzlich konfessionsneutral sein muss.»

Behörden müssen in alle Richtungen neutral sein

Giusep Nay kennt die Kruzifix-Fälle in der Schweiz nicht konkret aus der Nähe. «Aber ich vermute, dass die Diskussionen um Kopftuch-Verbot, Burka-Verbot, Minarett-Verbot jenen Leuten Auftrieb verschaffen, die auch das Kruzifix nicht wollen. Die sagen, wenn die Behörden nicht bereit sind, auch muslimische Religionssymbole zu tolerieren, dann müssten sie konsequenterweise auch die christlichen Symbole verbieten.»

Dass dies Freidenkern, wie offenbar im Walliser Fall, Auftrieb gibt, ist für Nay klar. «Wenn schon müssen die Behörden gegenüber allen Religionen neutral sein.»

Aber ein muslimisches Mädchen, das im Schulzimmer ein Kopftuch trage, und ein Kruzifix im Schulzimmer seien nicht vergleichbar, hingegen eine Lehrerin mit Kopftuch im Schulzimmer schon, «weil sie die Schule repräsentiert», sagt Nay.

So habe der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg entschieden, dass eine Genfer Lehrerin in ihrer Funktion das Kopftuch nicht tragen darf, weil im laizistischen Genf die Schule ganz klar konfessionsneutral sei.

«Die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schulräumlichkeiten repräsentieren die Institution Schule, während eine Schülerin mit einem Kopftuch nicht die Schule als Institution vertritt.»

Toleranz ist gefragt

Ob im Kruzifix-Streit in einer zunehmend angespannten religiösen und kulturellen Situation Bundesgerichtsurteile ausreichen, ist fraglich. Sie können für Giusep Nay in dieser Sache wegweisend sein. «Aber letztlich ist es eine Aufgabe der Gesellschaft.»

Deshalb begrüsse er an sich den Bundesgerichtsentscheid nicht – an dem er übrigens nicht beteiligt gewesen sei. «Ich würde bei den richterlichen Entscheiden eher dafür plädieren, dass man Toleranz erwarten kann, erwarten muss. Ohne Toleranz funktionieren multireligiöse, multikulturelle Gesellschaften nicht», betont Nay.

«Darum hätte ich eher entschieden, dass in einer katholischen Gegend, wo das Kreuz, das Kruzifix auch zur Mehrheitskultur gehört, Leute anderen Glaubens oder Nichtreligiöse, die dorthin ziehen, das respektieren und tolerieren sollten.»

Das Urteil des Bundesgerichts befasst sich explizit nur mit dem Kruzifix im Klassenzimmer der Volksschule. Nicht beurteilt wurden Kreuze in anderen Verwaltungsgebäuden oder Gerichten.

Der Jurist Simon Pesendorf fasst die Urteilsbegründung von 1990 in seiner 2009 verfassten Dissertation zur «Staatlichen Akzeptanz von religiösen Riten und Symbolen» wie folgt zusammen:

Die konfessionelle Neutralität sei an der Volksschule besonders gewichtig, weil diese für alle Kinder obligatorisch sei.

Damit solle verhindert werden, dass sich Menschen mit anderer religiöser Überzeugung als Aussenseiter vorkommen.

Streit um das Kruzifix gibt es auch im Ausland, so zum Beispiel in Italien.

Im November 2009 entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass das obligatorische Anbringen von Kruzifixen in Schulräumen die Religionsfreiheit verletze.

Italien hat aber im Februar erfolgreich verlangt, dass die Grosse Kammer des Menschenrechts-Gerichtshofs in Strassburg den Fall neu beurteilen muss.

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