Das Recht, mit Sex Geld zu verdienen
Die Schweiz gehört in Sachen Prostitution zu den liberalsten Ländern. Doch wer Sex anbietet, geniesst kaum gängigen Arbeitsschutz. Das "älteste Gewerbe der Welt" gelte immer noch als unmoralisch, bedauern Hilfsorganisationen.
Eine Gesellschaft ganz ohne Prostitution sei eine Utopie. Eine Person, die ihren Körper freiweillig gegen Geld zur Verfügung stellen möchte, müsse dies tun können – ohne dafür stigmatisiert oder bestraft zu werden. Dies ist die Meinung von Terre des Femmes Schweiz, einer Nichtregierungs-Organisation, die sich für die Rechte der Frau einsetzt.
Claudine Esseiva, Generalsekretärin der FDP Frauen Schweiz (Freisinnig-Demokratische Partei.Die Liberalen) sieht das ebenso. «Die Prostitution zu verbieten heisst nichts anderes, als sie untertauchen zu lassen, fern von jeder Kontrolle», sagt sie gegenüber swissinfo.ch.
Insel der «Lust»
In der Schweiz ist die Prostitution seit 1942 legal. Das (freiwillige) Ausüben wird als eine Art selbständiges Betreiben eines Gewerbes erachtet, wozu auch die Steuerpflicht gehört. Somit müssen alle Regeln erfüllt sein, von den Arbeits- bis zu den Aufenthaltsbewilligungen und der Deklaration der Tätigkeit bei der Kantonsbehörde.
Die Schweiz werde deshalb oft als Beispiel für Europa aufgeführt, heisst es bei dem Verein Aspasie. Dieser war vor 30 Jahren in Genf von einigen Prostituierten als Hilfsverein gegründet worden. «Es gibt nur wenige Länder, die die Direktiven des UNO-Programms gegen AIDS respektive die Legalisierung der Prostitution vollzogen haben», sagt Aspasie-Koordinatorin Marianne Schweizer.
«Seit einem Jahrzehnt entwickeln wir Präventionskampagnen für die Kunden von Prostituierten, was Umgang und Schutz betrifft.» In der Schweiz verlaufe die Öffentlichkeitsarbeit in diesem Bereich im Vergleich zu anderen Ländern pragmatisch. Der Verein Aspasie hofft, dass dieser «helvetische Weitblick», was die Legalisierung betrifft, nicht von «schlechten Gedanken wie in den Nachbarländern» getrübt werde. In Europa nämlich nimmt die Tendenz zu, Prostitution (wieder) zu verbieten und die Kundschaft zu büssen. Als jüngstes Beispiel dafür gelte Schweden.
So spräche sich auch die Mehrheit der Lobbygruppen im Bereich Prostitution, die sich in Brüssel engagieren, für Verbote aus, sagte kürzlich die Politologin Birgit Sauer von der Universität Wien gegenüber der österreichischen Tageszeitung Der Standard.
Ein legaler Rahmen jedoch ermögliche einen besseren Schutz der Prostituierten, sagt Claudine Esseiva: «Wir wissen dann, wo sie sich aufhalten, und wie wir mit ihnen in Kontakt kommen.» Die freisinnige Politikerin unterstützt auch das Einrichten einer Rotlichtzone in der Peripherie von Zürich.
Zwischen Verbot und ausufernder Bürokratie
Die Organisationen lehnen auch eine übertriebene Regulierung des Sektors ab. «Auch ausufernde bürokratische Auflagen tragen dazu bei, die Prostituierten in die Illegalität abtauchen zu lassen, was zu ihrer Marginalisierung beiträgt», so Schweizer.
Die spezifischen Prostitutions-Auflagen in einigen Kantonen würden auch als Schutzmassnahmen erachtet. Doch in Wirklichkeit komplizierten sie die Ausübung der Prostitution und führten damit vermehrt zu Abhängigkeiten, sagt die Politikerin.
So müssten laut Esseiva zum Beispiel im Kanton Bern Prostituierte, die als Selbständige anerkannt werden möchten, einen Business Plan vorweisen. Darin müssen die Leistungen aufgezählt und die entsprechende Marketingstrategie ausformuliert werden. «Es ist so absurd: Je mehr Regulierungen sich aufdrängen, desto eher werden diese Frauen, die oft nicht einmal die Amtssprache beherrschen, den Zuhältern in die Arme getrieben.»
Ein Beruf wie jeder andere?
Zur Bürokratie geselle sich der Umstand, dass das Bundesgericht als höchste juristische Instanz des Landes weiterhin Verträge von Personen, die Prostitution betreiben, als «gegen die guten Sitten verstossend» betrachte, im Sinn des Obligationenrechts, sagt Andrea Caroni, freisinniger Nationalrat.
Das hat zur Folge, dass diese Personen vereinbarte Entgelte nicht juristisch einfordern können. Entsprechende Streitigkeiten rund um Zimmermieten oder anderen Verträgen enden deshalb selten vor Gericht.
Unsere Rechtsordnung sperre eine der verwundbarsten Bevölkerungsgruppen von ihrem Schutz aus, schreibt der Politiker in einer Interpellation an den Bundesrat.
Es brauche daher sicherere Arbeitsbedingungen, so Marianne Schweizer, Massnahmen zur Verbesserung des gesetzlichen Rahmens, der Auffangstrukturen und Beratung. «Wer im Prostitutionsgeschäft arbeitet, soll wie andere selbständig Erwerbende behandelt werden. Auch braucht es die Wahlfreiheit, den Job als Selbständige oder als Arbeitnehmerin zu machen.»
Soll die Prostitution demnach als ein Beruf wie jeder andere erachtet werden? Auf keinen Fall, findet die Zürcher Vereinigung «Frauenzentrale». Sie gehört zu den wenigen Frauengruppen, die sich gegen die Legalisierung aussprechen. «Es handelt sich nicht um einen normalen Beruf, denn die freiwillige Prostitution ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme», sagte Vorstandsmitglied Andrea Gisler gegenüber dem wöchentlich erscheinenden Das Magazin. Laut Gisler müsste «ein Verbot der Prostitution wie in anderen Ländern diskutiert werden.»
Die Gründe, weshalb man sich für die Prostitution entscheide, seien vielfältig, entgegnet darauf Marianne Schweizer von Aspasie. Die Linie zwischen Freiwilligkeit und Zwang verlaufe im unscharfen Bereich.
«Wir haben Sexworker und Sexworkerinnen getroffen, die entweder von jemandem oder von den Umständen dazu gezwungen worden waren, die aber in der Folge selbständige Berufsständige wurden. Sie schätzen den Kundenkontakt und ihre Unabhängigkeit. Anderseits gibt es Leute, die selbständig im Sexgewerbe begonnen haben, aber nachher schlechte Erfahrungen gemacht haben.»
Prostitution und Menschenhandel auseinander halten
Eine diesen Frühling gemachte Untersuchung in Zürich und eine zweite, kürzlich in Bern erfolgte Recherche, die ein weitverzweigtes Netzwerk von Menschenhandel aufdeckte, das sich über die Prostitution finanzierte, zeigen jedoch ein ziemlich düsteres Bild.
In seinem Jahresbericht 2011 schreibt das Bundesamt für Polizei (fedpol), dass «der in Sachen Sexgewerbe eher liberale Gesetzesrahmen» und die vergleichsweise hohen Preise für die sexuellen Leistungen aus der Schweiz einen «attraktiven Markt machen – nicht nur für die ausländischen Prostituierten, sondern auch für die Organisatoren des Menschenhandels».
Eine Überlegung, die von Aspasie stark bezweifelt wird. «Von Zeit zu Zeit werden solche Fälle aufgedeckt. Dabei handelt es sich um Ausnahmen, die relativ schnell ans Licht kommen.» Die Aspasie-Koordinatorin räumt ein, dass verschiedentlich Frauen Opfer von Missbrauch werden, oft genug begangen von Schweizern. «Doch sollte dies nicht mit dem Menschenhandel vermischt werden. Dieser bleibt im Schweizer Sexgewerbe ein Nebenaspekt.»
Die Prostitution und der Menschenhandel zum Zweck sexueller Ausbeutung sind zwei unterschiedliche Thematiken, unterstricht auch Claudine Esseiva. «Für die Prostitution braucht es einen liberalen gesetzlichen Rahmen, während der Menschenhandel mit allen möglichen Mitteln bekämpft werden muss.»
Obschon keine exakten Daten vorliegen, wird geschätzt, dass in der Schweizer Prostitution zwischen 13’000 und 25’000 Personen tätig sind. Der Jahresumsatz des Gewerbes soll sich auf rund 3,5 Milliarden Franken belaufen.
Die Polizei stellt seit einigen Jahren eine Zunahme der Anzahl von Prostituierten fest. Während es im Kanton Genf 2004 noch deren 800 waren, sind es 2012 über 4100. Zu den Hauptgründen für diesen Zuwachs gehört das Personenfreizügigkeits-Abkommen zwischen der Schweiz und der EU. Das 2009 auf Rumänien und Bulgarien ausgeweitet wurde.
In der Schweiz werden die sexuellen Dienstleistungen gegen Bezahlung vorwiegend in Massagesalons angeboten. Dann folgt die Prostitution auf der Strasse, in Bars und Kabaretts sowie beim Begleitservice (escort service), gemäss einer 2009 publizierten Untersuchung des Soziologischen Instituts der Universität Genf.
Die Schweiz gehört zu den wenigen Ländern der Welt, die das Minimalalter zur Ausübung der Prostitution auf 16 Jahre festgelegt hat.
2010 hat die Schweizer Regierung die Europarats-Konvention zum Schutz der Kinder vor Ausbeutung und sexuellem Missbrauch unterzeichnet. Die Ratifizierung erfordert die Anhebung des legalen Minimalalters zur Ausübung der Prostitution auf 18 Jahre. Im Sommer 2012 hat die Regierung dem Parlament ein Projekt zu einer entsprechenden Gesetzesrevision unterbreitet. Die beiden Parlamentskammern haben das Geschäft bisher noch nicht behandelt.
Die Regierung möchte ferner die Kurzaufenthaltsbewilligung für Kabarett-Tänzerinnen (Ausweis L) abschaffen, die Frauen aus aussereuropäischen Ländern ermöglicht, in der Schweiz als Stripteasetänzerin zu arbeiten. Nach Ansicht des Bundesrats schützt dieser Status die Frauen nicht genügend, weil diese verschiedentlich dazu gezwungen werden, sich illegal zu prostituieren.
Die Stadt Zürich hat in den Monaten Mai und Juni 2012 eine Umfrage bei Prostituierten durchgeführt, die im Gebiet Sihlquai arbeiten.
Beim grössten Teil der 120 befragten Prostituierten handelt es sich um junge Roma-Frauen aus Ungarn. Prostitution ist eine Möglichkeit, die Familie im Herkunftsland zu unterstützen und deren Lebensbedingungen in ihren Dörfern zu verbessern.
Mehr als die Hälfte der befragten Frauen haben sich vor ihrem 20. Lebensjahr zu prostituieren begonnen. Einige von ihnen arbeiten bis zu 70 Stunden in der Woche. Durchschnittlich bedienen die jungen Frauen sechs Freier pro Nacht (mit Spitzenwerten bis zu 30).
Die Frauen werden gezwungen, einen «Beschützer» (Zuhälter) zu bezahlen oder ihren Verdienst der Familie zu Hause zu überweisen. Für ein Bett in einem Gemeinschaftszimmer müssen die Frauen bis zu 2700 Franken im Monat bezahlen.
Neben den harten Arbeitsbedingungen erleiden die Frauen physische und verbale Gewalt, Diebstähle und Vergewaltigungen.
(Aus dem Italienischen von Alexander Künzle)
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