Das Velo, das zu schnell ist für die Strasse
Francesco Russo ist der schnellste Mann der Welt auf einem muskelbetriebenen Zweirad: Jüngst verbesserte er den Stundenweltrekord auf sagenhafte 91,556 Kilometer. Im Alltag sind Liegeräder noch Exoten, haben aber dennoch Potenzial für nachhaltigen Verkehr.
Der «Eiviestretto», in dem Russo auf dem deutschen Lausitz-Oval zum Weltrekord raste, ist ein Geschoss auf zwei Rädern. Nach stehendem Start erreichte der 33-jährige Berner damit während seines 60-minütigen Efforts Spitzengeschwindigkeiten von knapp 100 Stundenkilometern. Der Antrieb: Muskelkraft pur.
Die strömungsoptimierte Vollverschalung ist auf den Piloten massgeschneidert. Sie liegt wie eine zweite Haut aus Karbon so eng an seinem schmalen, austrainierten Körper, dass Russo die Pedalen verkürzen und gar seine Veloschuhe modifizieren musste.
Der Clou aber ist seine Position: Russo liegt auf dem Rücken und kopfvoran in seinem Geschoss, so dass er die vor ihm liegende Piste nur via Blick in einen Spiegel sieht. Damit ist der «Eiviestretto» die extremste Interpretation eines Tiefliegers, wie der besondere Typ des Liegevelos auch genannt werden.
Das ausgefeilte Konzept ist der Aerodynamik geschuldet, dem in diesem Geschwindigkeitsbereich alles entscheidenden Faktor. Denn um eine Geschwindigkeit linear zu steigern, bedarf es einer Kraftzunahme im Quadrat.
Näher an die 100km/h-Mauer
«Dass es mit dem Rekord bereits beim ersten Versuch geklappt hat, zeigt, dass noch Potenzial vorhanden ist», sagt Russo zu swissinfo.ch. Er hält eine Steigerung um drei Kilometer für möglich. Damit würde er in den 95-km/h-Bereich vorstossen, und an die 100-km/h-Schallmauer anklopfen…
Die technischen Innereien und die Aerodynamik seines Gefährts hält Russo für mehr oder weniger ausgereizt. Davon zeugt, dass der «Eiviestretto» nach Erreichen der Stundenmarke noch fast sechs Kilometer ausrollte, ohne dass Russo noch einmal in die Pedalen getreten war!
Steigerungsmöglichkeiten sieht er beim Fahrer. «Ich kann mich noch spezifischer vorbereiten», ist er überzeugt. Seinen jährlichen Trainingsumfang auf dem normalen Rennvelo bringt er auf die Formel «etwa halb so viele Kilometer wie die Radprofis». Diese pedalen so um die 40’000 Kilometer und mehr.
Für Russo und sein Team ist der «Eiviestretto», ein rollendes Labor, dazu da, die Grenzen der Geschwindigkeit auf zwei Rädern auszuloten und zu verschieben.
Im Flachen schnell wie ein Auto
Für den Weltrekordler hat das Konzept des Liegerads in der Alltagsversion, also ohne Vollverschalung, dafür mit komfortabler Liegeposition sowie Ausstattung mit Serien-Technologie, durchaus Potenzial. «In Deutschland oder den Niederlanden, wo es oft flach ist, bieten sich Liegeräder für Arbeitswege bis 30 Kilometer an», sagt Russo.
Tatsächlich sind dort zwei- oder dreirädrige Liegeräder öfters Teil des Strassenbildes. In der Schweiz dagegen beschränke sich die Anhängerschaft mehrheitlich auf eine kleine, dafür «angefressene» Liegerad-Rennszene, sagt Pete Mijnssen, Chefredaktor des Velojournal und selber Liegeradfahrer. Die Fachzeitschrift ist das offizielle Organ des Verbandes Pro Velo, der sich auf politischer Ebene für mehr Platz und Sicherheit zugunsten des Fahrradverkehrs einsetzt.
«Das Fahren ist anfänglich etwas Gewöhnungssache, hat man aber einmal Fahrt aufgenommen, sind Liegeräder sehr schnell», beschreibt er das besondere Fahrgefühl.
Im Mischverkehr jedoch, wie er in den meisten Schweizer Städten vorherrsche, müsse der Platz auf der Strasse geteilt werden, insbesondere mit dem gut ausgebauten Öffentlichen Verkehr. «Deshalb ist das Liegerad in der Stadt eher ein Verkehrshindernis», sagt Mijnssen. Dagegen spreche auch, dass auf dem Tieflieger der Kopf der Fahrer praktisch auf Auspuffhöhe positioniert ist, aus denen die Abgase strömen.
Weltrekordler Francesco Russo weist auf ein weiteres Handicap des Liegerads im Dickicht städtischer Ampelwälder hin. «Wegen ihres höheren Gewichts von über 20 Kilogramm ist die Beschleunigung anstrengender, das Abbremsen wegen der höheren Geschwindigkeit schwieriger.»
Experte: Kein Vorteil bei der Kraftübertragung
Das Mehrgewicht sorgt dafür, dass sich der Geschwindigkeitsvorteil der Liegevelos aus der Ebene am Berg in einen Nachteil verwandelt, erklärt der Berner Velo-Experte Manfred Nüscheler. Ein Argument, das gerade in der hügeligen Schweizer Landschaft buchstäblich Gewicht hat.
Nüscheler lässt auch das in der Liegeradszene oft geäusserte Argument nicht gelten, dass die Kraftübertragung auf dem HPV besser sei als jene auf dem herkömmlichen Fahrrad. Vergleichsmessungen des deutschen Rennrad-Fachmagazins Tour hätten ergeben, dass dies nicht stimme, sagt Nüscheler. Der Inhaber von mehreren Weltrekorden im Radsprint auf dem Hometrainer hat sich quasi autodidaktisch zum anerkannten Experten in Sachen optimaler Kraftübertragung auf dem Velo entwickelt.
Nüscheler erwähnt auch Liegerad-spezifische Sicherheitsrisiken. «Bei einigermassen starkem Wind und schlechtem Wetter sind sie kaum einsetzbar», erklärt er das Handicap insbesondere der vollverschalten, zweirädrigen Versionen. Dazu komme ein genereller Nachteil: «Tieflieger sieht man im Strassenverkehr schlecht, es gab auch schon schwere Unfälle.»
Russo teilt die Vorbehalte Nüschelers punkto Sicherheit nicht. In den 18 Jahren, in denen er Liegeräder auf der Strasse fährt, und das bis zu 10’000 Kilometer pro Saison, sei er unfallfrei geblieben.
Aber weil die Autos immer grösser und höher geworden sind, so dass er schon beinah deren Chassis von unten gesehen habe, ist Russo vom Tieflieger abgekommen und hat sich ein zweirädriges Modell mit Rennvelo-Rädern gebaut (28 Zoll). «Darauf liege ich über den Rädern und bin somit fast so hoch wie jemand auf den Zeitfahrvelo in Triathlonposition.»
Mehr Schub durch E-Motor?
Der Elektroantrieb hat in der gesamten Fahrradbranche einen veritablen Boom ausgelöst. «Der E-Antrieb pflügt die Veloszene um», konstatiert Mijnssen. Die Fahrhilfe ab Steckdose bringe vermehrt Pendler, Rentner und Touristen in den Sattel, eröffne neue Möglichkeiten für die Familienmobilität und lasse verschwundene Fahrrad-Typen wie das Transportvelo wieder aufleben.
«Der Elektromotor hilft beim Anfahren und am Berg, während man ihn im Flachen ausschalten kann», sagt Francesco Russo. Weil auch Alltags-Liegeräder mit purer Muskelkraft hohe Geschwindigkeiten von 70 bis 80km/h erreichen, sieht Russo mögliche Probleme bei der Zulassung.
Dank Elektromotor könnten auch Liegeräder in der Schweiz interessanter werden, sagt Veloexperte Mijnssen. Ein Potenzial sieht er insbesondere für trendige Modelle wie beispielsweise das «Klimax» eines deutschen Liegerad-Herstellers. Das Dreirad wird durch eine demontierbare textile Schutzhülle nicht nur zum Allwetterfahrzeug, sondern erhalte dadurch ein «Science-fiction-mässiges Aussehen», findet Pete Mijnssen.
Sollte Francesco Russo auf einer seiner Trainingsfahrten mit dem Rennvelo schon bald solch «ausserirdische» Liegeräder treffen, würde er sich bestimmt freuen. Auch wenn er als Weltrekordler tempomässig keine Chance hätte.
Ein Liegerad ist ein Fahrrad, dessen Sitz- respektive Liegeposition nach hinten geneigt ist.
Spezielle Liegeräder für den Renneinsatz werden auch Speedbikes genannt.
Als wichtigste Vorteile gelten eine entspannte Körperhaltung, ermüdungsfreie Haltung von Armen und Händen und der geringere Luftwiderstand.
Nachteile sind der hohe Preis, das hohe Gewicht, anstrengendes Anfahren und schwierigeres Abbremsen, Fahren am Berg, schlechtere Übersicht (Stadtverkehr!).
Liegeräder verfügen meist über zwei oder drei Räder.
Vollverschalte muskelangetriebene Drei- oder Vierräder werden auch Velomobile genannt.
Der Berner Francesco Russo erzielte Anfang August auf dem Lausitzring in seinem «Eiviestretto» mit 91,556 Kilometern einen neuen Stundenweltrekord.
Stundenweltrekord Frauen: 84,02 km von Barbara Buatois (2009).
Weitere Rekorde aus der Sparte Speedbike:
200 m mit flieg. Start: 132,50 km/h (5,434 Sekunden, Sam Whittingham, 2008).
1000 m, flieg. Start: 128,40 km/h (28,037 s, Sam Whittingham, 2001).
24 h stehender Start: 1219 km bzw. 50,8 km/h von Christian von Ascheberg (2010).
Der Berner ist Träger von fünf Radsprint-Weltrekorden auf dem Hometrainer (eingetragen im Guinnessbuch der Rekorde).
Bei Rollensprint-Wettbewerben auf dem Hometrainer war Nüscheler lange Zeit unbesiegbar. Zu den Geschlagenen zählte auch Pascal Richard, Schweizer Olympiasieger auf der Strasse 1996.
Nüschelers Marken:
Durchschnittliche Leistung von 1020 Watt (1,4 PS) während einer Minute (1991).
500 Meter in 14,36 Sekunden (1997).
1000 Meter in 32,48 Sekunden (1997).
Höchstgeschwindigkeit auf der Rolle: 164,1 km/h (Übersetzung 54 x 11 Zähne).
Offiziell maximal gemessene Kraft bei Radtests: 2375 Watt (3,3 PS) über 5 Sekunden auf einem Fahrradergometer (1995).
Maximal-Tretfrequenz von 271 Umdrehungen pro Minute (1990).
Vor dem Stundenweltrekord-Versuch von Tony Rominger 1994 hatte Nüscheler aufgrund seiner Berechnungen eine Distanz von 55,450 km prognostiziert.
Am 5. November 1994 fuhr Rominger 55,291 km. Nüscheler lag mit seiner Voraussage lediglich 159 Meter daneben.
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