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Demenz: Akzeptieren, statt verdrängen

Glücksmomente im Hier und Jetzt. AFP

Infolge höherer Lebenserwartung steigt die Zahl der Menschen mit Demenz in der Schweiz massiv an. Die Kosten dürften enorm sein, die Herausforderungen riesig. Wie soll die Gesellschaft diesem Phänomen begegnen? Braucht es eine nationale Demenzpolitik?

Bis im Jahr 2050 wird die Anzahl dementer Menschen in der Schweiz von derzeit rund 111’000 auf schätzungsweise 266’000 steigen. Weltweit wird bis Mitte Jahrhundert mit über 115 Millionen Demenzpatienten gerechnet. Das sind dreimal so viele wie heute. Dies zeigt der aktuelle Demographic Pulse der Versicherung Allianz Suisse.

Besonders betroffen ist die Schweiz, das Land mit der höchsten Lebenserwartung in Europa und weltweit die Nummer 2 nach Japan. Dank guter Lebensqualität werden die Schweizerinnen und Schweizer nicht nur immer älter, sondern altern auch gesünder.

Diese Langlebigkeit hat ihren Preis. Das Alter muss nicht zwangsläufig mit dem Schicksal einer Demenz einher gehen, doch wer lange lebt, muss damit rechnen, eines Tages dement zu werden. Das heisst, gewisse Prozesse funktionieren nicht mehr, das Hirn wird brüchig, die Denkfähigkeit nimmt ab, man wird vergesslich, verliert die räumliche oder zeitliche Orientierung und kennt seine Nächsten nicht mehr. Das ist hart – für die Dementen, aber auch für ihre Angehörigen.

Nationale Demenzpolitik

Etwa 60 Prozent der dementen Menschen werden zu Hause betreut. Nicht selten sind die Angehörigen überfordert und stossen an ihre Grenzen. Aber auch die verschiedenen Institutionen sind gefordert, denn schon heute ist ein grosser Teil der Menschen in den Pflegeheimen dement. Und die Zahl wird dramatisch ansteigen. Ideen und Perspektiven sind also dringend nötig.

Angesichts dieser Entwicklung fordert die Schweizerische Alzheimervereinigung seit Jahren eine nationale Demenz-Strategie. Zwei Motionen zur Steuerbarkeit der Demenzpolitik wurden sowohl vom Nationalrat wie auch von der zuständigen Ständerats-Kommission angenommen.

Laut der Alzheimervereinigung geht es darum, Strategien und Mittel zu finden, «damit die Betroffenen, ihre Angehörigen wie auch Pflegefachpersonen das tägliche Leben mit der Krankheit so gut wie möglich meistern können. Die Förderung der noch vorhandenen Fähigkeiten und der Selbständigkeit von demenzkranken Menschen kann ihre Hilfsbedürftigkeit bedeutend verzögern» .

Autonomie dank Technologie

Um eine grösstmögliche Selbständigkeit und Lebensqualität bei Menschen zu erreichen, die nicht mehr «richtig im Kopf «sind, gibt es mittlerweile diverse Hilfsmittel, so etwa ein kleines portables Gerät mit integrierter GPS-Technologie. Dies erlaubt einem Dementen, sich in einer begrenzten Zone frei zu bewegen. Verlässt er diese Sicherheitszone, wird via SMS Alarm ausgelöst. Die alarmierten Personen erfahren umgehend, wo sich der Patient aufhält und mit welcher Geschwindigkeit er sich fortbewegt.

Dank diesem GPS-Gerät können Betroffene ihre Gewohnheiten ein Stück weit beibehalten und ihren Drang nach Bewegung ausleben. Gleichzeitig können sie am sozialen Leben teilnehmen, was den fortschreitenden Zerfalls-Prozess verlangsamen dürfte.

Eine grosse Hilfe sind auch Sensoren, die beispielsweise an Türen oder Bettkanten fixiert werden. Sobald der Patient das Bett verlässt oder die Türe öffnet, wird Alarm ausgelöst. Diese Einrichtung ermöglicht den betreuenden Personen und Angehörigen, nachts vielleicht ein paar Stunden unbesorgt zu schlafen.

«Wenn man technische Hilfsmittel je nach Stand des Demenzprozesses angemessen einsetzt, kann die Selbständigkeit und Autonomie von dementen Menschen so lange wie möglich gewahrt werden», sagte der Gerontologe Helmut Mazander an einer Tagung über Sicherheit für Menschen mit Demenz in Basel. 

Demenz, eine Art zu altern

Mazander, langjähriger Pflegefachmann und Mitinhaber des Demenzladens in Basel, plädiert für einen ungezwungenen und innovativen Umgang mit dementen Leuten. «Demenz ist normal und gehört zum Leben. Wir müssen lernen, mit diesem Phänomen umzugehen und es nicht zu verdrängen.»

Um behaupten zu können, dass es den Menschen mit Demenz in dieser Gesellschaft gut gehe, müsse noch sehr viel getan werden, so der Gerontologe. «Zu häufig werden demente Menschen weggesperrt.»

Allerdings gibt es auch andere Beispiele. So gilt etwa das Pflegeheim Sonnweid in Wetzikon bei Zürich als vorbildlich, weil sich die dementen Bewohner innerhalb der Anlage frei bewegen können. Alle Türen sind unverschlossen, nur der Garten ist umzäunt.

Erstes Schweizer Demenzdorf

Ein anderes Projekt ist in Wiedlisbach im Kanton Bern geplant. Hier soll, nach dem Vorbild von Hogewey in den Niederlanden, in fünf bis sechs Jahren das erste Schweizer Demenzdorf entstehen, mit Arztpraxis, Café, Kiosk und Kino. Die Bewohnerinnen und Bewohner sollen sich in geschütztem Rahmen frei bewegen können, mit einem Gefühl der Selbständigkeit.

Brigitta Martensson, Geschäftsleiterin der Alzheimervereinigung, begrüsst das Projekt. «Für Menschen mit Demenz im fortgeschrittenen Stadium ist das Demenzdorf ein gutes Angebot.»

Helmut Mazander äussert sich vorsichtig: «Wir müssen überlegen, wie wir in einem offenen Umfeld grösstmögliche Autonomie gestalten können, so dass die Menschen das Gefühl haben, in einem Dorf zu leben.» Es dürfe kein «afrikanisches Dorf» mit einer grossen Mauer rundherum entstehen. «Dann kann man auch gleich ein modernes Pflegeheim bauen und muss dieses Projekt nicht an die grosse Glocke hängen.»

Wichtig sei, dass sich die Leute frei und sicher fühlten. «Und das tun sie, wenn das Personal sehr gut ausgebildet ist, demenzspezifisch und nicht krankenspezifisch, und wenn die Angehörigen in den Prozess integriert sind.»

2050 dürfte es weltweit über 115 Millionen Menschen mit Demenz geben.

In Europa wird mit einem Anstieg von heute 10 Millionen auf knapp 19 Millionen gerechnet.

In der EU kommen heute zwei Demenzpatienten auf 100 erwerbsfähige Personen im Alter zwischen 15 und 64 Jahren. 2050 dürften es bereits 5 Menschen mit Demenz sein. 

In der Schweiz leben heute über 110’000 Menschen mit Demenz. Bis Mitte des Jahrhunderts wird mit 266’000 gerechnet.

In der Schweiz erkranken pro Tag rund 60 Frauen und Männer an Demenz, pro Jahr sind das über 20’000 neue Fälle.

Die Gesamtkosten der Demenzerkrankungen werden in der Schweiz auf 7 Milliarden Franken pro Jahr geschätzt.

(Quelle: Allianz Suisse und Welt-Alzheimer-Gesellschaft)

Es gibt mehr als 50 Erkrankungen, die sich ähnlich äussern wie Alzheimer.
 
Demenz ist die generelle Bezeichnung für solche Krankheiten.

Die Alzheimer-Krankheit ist die häufigste Form der Demenz.
 
Bei Demenz treten Verluste des Erinnerungs-Vermögens zusammen mit anderen Funktionsstörungen des Gehirns auf. Beides zusammen führt zum Verlust der Selbständigkeit.
 
Das grösste Risiko, an einer Demenz zu erkranken, ist das Alter.
   
Von Alzheimer oder einer anderen Demenzkrankheit betroffen sind schätzungsweise 8% der über 65-Jährigen.
 
(Quelle: Schweizerische
Alzheimervereinigung)

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