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«Der Arbeitsfrieden ermöglichte Fortschritt»

Jean-Claude Rennwald: Der Gesamtarbeitsvertrag in der Uhrenindustrie fiel nicht einfach vom Himmel. Keystone

1937 begraben Arbeitgeber und Gewerkschaften der Uhrenindustrie das Kriegsbeil. Sie unterzeichnen die erste als Friedensabkommen bekannt gewordene Vereinbarung. Ein Rückblick mit dem ehemaligen jurassischen Parlamentarier und Gewerkschafter Jean-Claude Rennwald.

Als überzeugter Verfechter der Sozialpartnerschaft hat Jean-Claude Rennwald als Gewerkschaftssekretär nicht weniger als vier Gesamtarbeitsverträge (GAV) unterzeichnet. Vor seiner Frühpensionierung sass Politwissenschafter und Sozialdemokrat Rennwald acht Jahre im Nationalrat. Zusammen mit dem Historiker Jean Steinmauer veröffentlichte er ein Buch über die 75 Jahre Sozialpartnerschaft in der Uhrenbranche.

swissinfo.ch: Weshalb war die Unterzeichnung des ersten Gesamtarbeitsvertrags in der Uhrenindustrie ein Schlüsselereignis in der Geschichte der Sozialpartner in der Schweiz?

Jean-Claude Rennwald: Im Austausch gegen gewisse Konzessionen haben Mitte Mai 1937 die Gewerkschaft und ihre Mitglieder auf die Streikwaffe und die Patrons auf die Aussperrung verzichtet.

Seither hat sich seit 75 Jahren ein intensiver Dialog zwischen Arbeitgeber-Verbänden und Gewerkschaften entwickelt. Mit dem Ergebnis, dass die Uhrenindustrie heute über einen der ausgereiftesten GAV in der Schweiz verfügt.

Dabei darf nicht vergessen werden, dass dieser nicht einfach vom Himmel fiel. Er ist die Folge eines harten Streiks in der Bieler Zifferblattindustrie, der sich in der Folge auf Neuenburg ausweitete. Ohne diesen Arbeitskampf und diese Mobilisation wäre der GAV wohl nie zustande gekommen.

Das Kräftemessen war notwendig, genauso wie die Intervention des Bundesrats, der die Vertreter der Lohnempfänger und die Patrons zwang, sich an den gleichen Tisch zu setzen, um zu einem Resultat zu gelangen.

swissinfo.ch: Ein Teil der Gewerkschafter glaubt, dass der Arbeitsfrieden seit 75 Jahren vor allem den Interessen der Arbeitgeber entgegen kommt. Ist dies der Fall?

J.C.R.: Die Situation ist sicher je nach Wirtschaftsbranche verschieden. So wie ich das sehe, ist der Arbeitsfrieden in einigen Sektoren fragiler als in anderen. In der Uhrenindustrie jedoch konnten mit jeder GAV-Erneuerung soziale Errungenschaften erhalten werden. Die Krisen in der Uhrenbranche haben Gewerkschaften und Arbeitgeber dazu bewogen, so annehmbar wie mögliche Kompromisse zu finden.

Für diesen Spezialfall Uhrenbranche sehe ich verschiedene Gründe. Erstens ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad höher als in anderen Branchen, und zweitens sind die meisten Arbeitgeber Romands. Diese sind etwas offener für den Dialog als ihre Kollegen in der Deutschschweiz.

Ausserdem gehört die Uhrenindustrie zu den Konsumgütersektoren, wo ein Streik viel schneller Imageschäden nach sich zieht als eine Arbeitsniederlegung zum Beispiel im Investitionsgütersektor.

swissinfo.ch: Sind die Löhne in der Uhrenbranche heute auf dem Niveau, der dem Erfolg der Branche entspricht? Gibt es eine Beteiligung der Arbeitnehmer an den Branchenerlösen?

J.C.R.: Generell gesehen gibt es eine Umverteilung. Dazu gehören auch andere Vorteile, wie die Frühpensionierung oder den 16-wöchigen Mutterschaftsurlaub bei voller Lohnfortzahlung.

Ich gebe aber zu, dass dies eine der Schwächen des GAV ist. Die Minimalverdienste sind noch nicht genügend hoch, besonders nicht in den Regionen des Wallis, des Tessins und des Juras.

Die Gewerkschaften arbeiten bereits seit Jahren an diesem Dossier, um zu einem möglichst guten Resultat zu kommen.

swissinfo.ch: Schweizweit ist nur einer von zwei Angestellten einem GAV unterstellt. Dieser Anteil liegt ziemlich unter dem Organisationsgrad in unseren Nachbarländern. Sind GAV und Arbeitsfrieden unter diesen Umständen wirklich eine Erfolgsstory?

J.C.R.: Diejenigen GAV, die es gibt, kann man als Erfolg bezeichnen. Obschon es gilt, sie weiter zu verbessern. Dass die GAV die Hälfte der Lohnempfänger nicht umfassen, zeigt jedoch, dass es für Gewerkschaften noch viel zu tun gibt. Vor allem im Dienstleistungssektor und den neuen Technologien, die nicht auf denselben Traditionen aufbauen wie die Uhren-, Werkzeug- oder Baubranche.

swissinfo.ch: Gibt es den schweizerischen Ausnahmefall auch in Sachen Sozialpartnerschaft und Arbeitsfrieden?

J.C.R: Ich denke schon. Wir verhalten uns anders als in Frankreich oder in anderen lateinischen Ländern, wo man sich Arbeitsverhandlungen ohne vorhergehende Streiks oder ähnliche Aktionen gar nicht vorstellen kann.

Im Norden hingegen verhalten sich die Leute eher wie hier. Mit einem grossen Unterschied: Im Norden umfassen die Arbeitsverhandlungen nicht nur die Sozialpartner, sondern auch den Staat. Das ist in der Schweiz nicht so.

swissinfo.ch: Die Arbeitsverhandlungen bringen die Gewerkschaften mehr und mehr in direkten Konflikt mit multinationalen Konzernen, die ihren Entscheidungssitz gar nicht in der Schweiz haben. Oder die, wie Swissmetal, Merck-Serono oder Lonza, unter ausländischem Management stehen. Gefährdet dies den Arbeitsfrieden?

J.C.R.: Es geht hier weniger um die Nationalität des Arbeitgebers als um eine gewisse soziale, politische und ökonomische Kultur. Der traditionelle alte Patron, zwar paternalistisch, aber offen für sozialen Dialog, stirbt aus. Ersetzt wird er durch Manager, die nur noch auf maximalen Profit aus sind.

Das entspricht schon einem Wechsel in der Gesamtkonstellation. Zwar gibt es die gewerkschaftliche Aktivität auch auf internationaler Ebene. Aber es braucht noch viel Fortschritt, um wirklich auf globalem Niveau Arbeitskampf zu betreiben.

swissinfo.ch: Erklärt dieser Verlust an Einfluss der Gewerkschaften deren vermehrten Gebrauch von direktdemokratischen Instrumenten?

J.C.R.: Die Arbeitgeber in jenen Branchen, in denen GAV und Sozialpartnerschaften funktionieren, schätzen den Griff der Gewerkschaften zu Volksinitiativen und Referenden nicht allzu sehr. Aber eben: Die Hälfte der Lohnempfänger sind gewerkschaftlich nicht organisiert. Man darf sie nicht fallen lassen. Das direktdemokratische Instrumentarium erlaubt uns, ihnen entgegen zu kommen.

swissinfo.ch: Was bedroht den Arbeitsfrieden sonst noch?

J-C.Rennwald: Ausser vom Kulturwandel des Patrons zum Manager wird der Arbeitsfrieden auch von der zunehmenden Flexibilität der Arbeit bedroht. Der Rückgriff auf temporäre Arbeitskräfte und das Ersetzen von unbefristeten durch befristete Arbeitsverträge werfen zahlreiche Probleme auf.

Es ist sehr schwierig, Leute, die oft Arbeitsplatz und Arbeitsort wechseln, gewerkschaftlich zu organisieren.

1936, als die Schweiz die Weltwirtschaftskrise voll zu spüren bekam, wertete der Bundesrat (Regierung) den Franken um 30% ab und ermächtigte das Volkswirtschaftsdepartement zur Funktion als Schiedsgericht bei Arbeitskonflikten und Kollektivverträgen.

15. Mai 1937: Unterzeichnung des ersten Gesamtarbeitsvertrags (GAV), des so genannten Friedensabkommens der Uhren- und Metallindustrie mit den Arbeitgebervertretern. Damit wurden zwei Monate Streik beendet.

Die Vertragsparteien verpflichteten sich zu einem absoluten Arbeitsfrieden. Die Arbeitgeber versprachen, keine Aussperrungen (Lock outs) mehr vorzunehmen, wie das Schliessen von Werkstätten, und die Arbeiterschaft sicherte zu, nicht zum Mittel des Streiks zu greifen.

Am 19. Juli 1937 folgt ein GAV in der Metall- und Maschinenindustrie.

1941 folgen auf Antrag des Bundesrates GAV in weiteren Industriesektoren.

Die neue Bundesverfassung schreibt zum ersten Mal in den Grundrechten das Streikrecht vor. Sie wurde 1999 angenommen.

2012 umfassen die GAV in den Uhren- und Mikrotechnikbranchen mehr als 70% aller Unternehmen und mehr als 85% der Mitarbeitenden.

Der Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist ein Vertrag zwischen Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden und Arbeitnehmerverbänden zur Regelung der Arbeitsbedingungen und des Verhältnisses zwischen den GAV-Parteien.
 
Er ist in den Artikeln 356 bis 358 des Obligationenrechtes geregelt.
 
Der klassische Inhalt eines GAV beinhaltet Bestimmungen über den Abschluss, Inhalt und Beendigung des Einzelarbeitsvertrages (normative Bestimmungen), Bestimmungen über die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien unter sich (schuldrechtliche Bestimmungen) und Bestimmungen über Kontrolle und Durchsetzung des GAV.

De facto unterliegt nur einer von zwei Lohnbezügern in der Schweiz einem GAV. In Deutschland sind es zwei von drei, in Italien sind es 4 von 5, und in Österreich fast alle Arbeitnehmer.

(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

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