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Der Bachelor leidet noch immer an Kinderkrankheiten

Bologna sorgt auch 10 Jahre nach der Einführung für Diskussionen in den Hörsälen. Keystone

Zehn Jahre nach ihrer Lancierung könnte die Bologna-Reform über die Mobilitätsfrage stolpern. Der "Bachelor" erlaubt nicht in jedem Fall das Wechseln der Studienrichtung oder der Fakultät, wie er es eigentlich sollte.

Der Bologna-Prozess hat die schweizerische und europäische Universitätslandschaft reformiert. Die Bilanz, die man eine Dekade nach dem Lancieren zieht, ist durchmischt.

Professoren, Doktoranden und Studenten setzten sich Ende August in Zürich mit dem Thema Bachelor auseinander. Die Veranstaltung war von der Rektorenkonferenz der Schweizer Universitäten (CRUS) organisiert worden.

Mit dem Bachelor-Titel werden die ersten drei Studienjahre abgeschlossen. Theoretisch erlaubt er den Einstieg ins Berufsleben. Praktisch jedoch neigt die Berufswelt dazu, eher einen Bewerber mit einem Masterdiplom, dem alten Lizenziat, zu fordern.

Romina Loliva, Mitglied des Exekutivkomitees des Verbandes der Schweizer Studierendenschaften (VSS), meint: «Es ist fast schizophren: In der Schweiz sind Bachelor- und Masterstudiengänge stark separiert. Es handelt sich um einen kumulierten Bildungsprozess, der ganz normal fortgesetzt wird, sobald die erste Hürde genommen wurde.»

Loliva spricht gegenüber swissinfo.ch noch ein anderes Problem an: Die grosse Wundertüte Bachelor. «Jede Hochschule definiert ihn ein wenig anderes», kritisiert sie.

«In der Schweiz haben wir zudem noch drei verschiedene Arten von Instituten: Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogische Hochschulen. Und alle haben unterschiedliche Bedürfnisse. Aber die Unterschiede zwischen den Bachelors erschweren die Mobilität. Es braucht Harmonisierungs-Massnahmen, welche die Besonderheiten beachten. Das ist ein schwieriger Weg.»

«Diktat der Anerkennung»

Für Martine Rahier, Rektorin der Universität Neuenburg und Mitglied der Bologna-Delegation der CRUS ist der Mangel an Mobilität auf das Problem der Transparenz der Ausbildung zurückzuführen.

«Das erste Jahr, welches die Lücken zwischen Gymnasium und Universität schliesst, wird entweder als ‹propädeutisch› (als Vorbildung oder Einführung in eine Wissenschaft) oder als ‹Filter› betrachtet. Dieses Definitionsproblem beschäftigt alle», sagt sie gegenüber swissinfo.ch.

Was die Mobilität betrifft, will Antonio Loprieno, Präsident der CRUS und Rektor der Universität Basel, nicht um den heissen Brei herumreden.

«Ich werde mich mal politisch unkorrekt ausdrücken. Ich glaube, dass die Regelung zur automatischen Anerkennung von Diplomen das schlimmste Hindernis für die Mobilität ist», sagt er.

Verborgene Selektion?

Danielle Chaperon, Vizerektorin der Universität Lausanne, hat noch einen weiteren Fehler ausgemacht: «Die Master werden zu Marken, quasi zu Luxusprodukten, mit denen sich die Universitäten zu profilieren versuchen», meint sie.

«Sie gestalten Bachelor-Studien, welche die Studierenden fast zwingen, bei ihnen zu bleiben. Und das schränkt die Mobilität weiter ein», so Danielle Chaperon.

Dem stimmt Romina Loliva zu: «Diese Konzentration auf den Master ist auch ein Weg, um durch die Hintertür ein verstecktes Selektionsverfahren einzuführen.»

Erklärung: Wer einen Bachelor-Abschluss hat, soll in jedem Masterbereich weiterstudieren können. Die von den Master-Anbietern versprochene «Spezialisierung» erfordert jedoch oft schon zu Beginn des Masterstudiums spezifische Fachkenntnisse.

Die Bachelors dürfe man nicht vernachlässigen, betont Martine Rahier. «Aber es ist schon so, dass eine hervorragende Bachelor-Betreuung nicht zuvorderst figuriert bei den Attraktivitäts-Argumenten der Universitäten, die einen Master anbieten, obwohl dies es ein wichtiger Punkt wäre…»

ECTS: Wie Panini-Bilder sammeln?

Die bekannten ECTS-Credits (ein Jahr Bachelor-Studiengang entspricht zum Beispiel 60 Punkten) können nach Ansicht von Nicole Rege-Colet, Direktorin der Pädagogischen Hochschule der italienischen Schweiz (SUPSI-DFA), auch unerwünschte Auswirkungen haben. So seien viele Studierende fast besessen, schnellstmöglich viele Punkte zu sammeln.

«Die Studierenden sagen: ‹Ich habe 180 Punkte, ich will meinen Bachelor!›. Punkte sammeln wie Panini-Bildchen – wir müssen gegen diese kapitalistische Vision der universitären Bildung kämpfen!»

Und die Studierenden kritisieren dabei einen Mangel an Transparenz: «Es fehlen bessere Instrumente zum Messen von Arbeitsbelastung und Fähigkeiten», so Romina Loliva.

Der Rektor der Universität Zürich hat eingestanden, dass die Arbeitsbelastung für die Studierenden höher sei als zuvor. Man erwäge die Ergreifung von Korrektur-Massnahmen, insbesondere in bestimmten Phasen des Semesters.

Die Verbesserung der Lernergebnisse nach der Ausbildung sind nicht nur für die CRUS eine wichtige Baustelle.

Ariane Gigon, Zurich, swissinfo.ch
(Übertragung und Adaption aus dem Französischen: Etienne Strebel)

Die Bologna-Reform wurde 1999 von 29 europäischen Ländern, darunter auch die Schweiz, lanciert. An diesem Prozess nehmen aktuell 47 Länder teil.

Die wichtigste Änderung ist die Teilung der alten Diplom- oder Lizenziats-Studiengänge in Bachelor-Studiengänge, denen Masterstudiengänge folgen können – aber nicht müssen. Die Reform wurde in den Universität 2001 eingeführt und 2005 in den Fachhochschulen.

Im Wintersemester 2009/10 folgten alle, die an einer Schweizer Universität neu ihr Studium aufgenommen hatten, einem Bachelor-Programm (einschliesslich Medizin). 90% aller Studierenden nahmen an einer Bachelor- oder Master-Ausbildung teil.

Master in den Universitäten: In der Schweiz ist der Prozentsatz der Maturabschlüsse relativ tief (ca. 20%). Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch hoch, dass ein an einer Uni erworbener Bachelor mit einem Masterstudium fortgesetzt wird.(90%).

Master in den Fachhochschulen: In den Fachhochschulen wird das Studium meist mit dem Erreichen des Bachelor-Grads abgeschlossen. Nur 16% der Absolventen mit einem Bachelor-Diplom beginnen im selben Jahr ein Master-Studium.

Mobilität: 33% der Master-Absolventen haben ihren Bachelor an einer anderen Hochschule erworben, der grösste Teil davon (20%) im Ausland.

Thematische Mobilität: 2008 hatten nur 4% der Master-Beginner ihren Bachelor auf einem anderen Fachgebiet gemacht.

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