«Der Beweis für Russlands Scheitern im Kaukasus»
Nach mehrjähriger Ruhe ist Moskau erneut Ziel eines Doppelanschlags geworden. Für die Russlandkennerin Thérèse Obrecht illustrieren diese Attentate, dass die Politik des Kremls im Kaukasus klar gescheitert ist.
Die Sprengsätze wurden am Montag während des Berufsverkehrs an den U-Bahn-Stationen «Lubjanka», wo die Geheimdienstzentrale liegt, sowie «Park Kultury» mitten im Zentrum der Stadt gezündet.
Mindestens 39 Menschen starben, rund 70 wurden bei diesem Doppelattentat verletzt, das laut den russischen Behörden von zwei Selbstmordattentäterinnen aus dem Kaukasus verübt wurde.
Der letzte schwere Anschlag auf die Moskauer Metro geht auf den 6. Februar 2004 zurück. Damals wurden 41 Menschen getötet und 250 weitere verletzt.
Der Chef des russischen Inlandgeheimdienstes FSB machte terroristische Gruppen aus dem Nordkaukasus für die Anschläge verantwortlich. Seit Jahren bereiten Untergrundkämpfer aus der Konfliktregion Moskau immer wieder Probleme.
Thérèse Obrecht, Journalistin und Präsidentin der Schweizer Sektion von Reporter ohne Grenzen, war viele Jahre Korrespondentin fürs Westschweizer Fernsehen in Moskau. Im Gespräch mit swissinfo.ch erläutert sie die möglichen Gründe, die zu diesem neuen Gewaltakt geführt haben könnten.
swissinfo.ch: Moskau beschuldigt Terroristen aus dem Nordkaukasus, hinter den Attentaten vom Montag auf die Moskauer Metro zu stehen. Ist das in Ihren Augen glaubwürdig?
Thérèse Obrecht: Jedes Mal, wenn in Russland ein Anschlag verübt wird, werden die Tschetschenen, oder etwas genereller gesagt, die Kaukasen dafür verantwortlich gemacht. Diese Behauptung hat sich oft bewahrheitet.
Bei den Anschlägen von 1999 mit über 200 Todesopfern in Moskau war die tschetschenische Spur aber ganz klar eine Manipulation der Machthaber. Es ist also Vorsicht geboten.
Das Attentat vom Montag scheint jedoch die Handschrift von Selbstmordattentäterinnen aus Tschetschenien oder dem Kaukasus zu tragen.
swissinfo.ch: In den letzten Wochen haben russische Sicherheitskräfte mehrere Islamistenführer aus dem Nordkaukasus getötet. Könnte es sich bei den Anschlägen also um eine Antwort der Untergrundkämpfer handeln?
T.O.: Meiner Meinung nach handelt es sich um Racheakte, die sich in eine endlose Reihe von Grausamkeiten, von Ungerechtigkeiten einreihen, die der Krieg mit sich bringt.
In Tschetschenien, aber auch in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien, kommt es jeden Tag zu Mordanschlägen, Entführungen und Gewalttaten. Der Nordkaukasus ist ein Pulverfass.
Diese Anschläge sind der Beweis dafür, dass die offizielle Linie des Kremls, der unermüdlich erklärt, der Krieg sei beendet und alles geregelt, falsch ist. Mit der Ernennung von Ramsan Kadyrow zum Präsidenten Tschetscheniens, einem Mörder und Folterer, ist Russland gescheitert.
Früher oder später wird auch Russland zu diesem Schluss kommen: Ohne ein Minimum an Gerechtigkeit und Hoffnung wird dieser Konflikt ewig schwelen.
swissinfo.ch: Nach der Ermordung der führenden Menschenrechts-Aktivistin Natalia Estemirowa im Juli 2009 verglichen gewisse Verteidiger der Menschenrechte das Regime Kadyrows mit der schlimmsten Periode des stalinistischen Terrors Ende der 1930er-Jahre. Teilen Sie diese Meinung?
T.O.: Soweit würde ich nicht gehen. Aber gemäss Zahlen der Nichtregierungs-Organisation Memorial gab es in den letzten Jahren in Tschetschenien proportional zur Bevölkerung mehr Tote als zu Zeiten Stalins in der Sowjetunion.
Ramsan Kadyrov regiert sein Land diktatorisch und total willkürlich. Er ist ein grausames Monster, das seine Republik mittels Einschüchterung unter Kontrolle hält. Den Jungen bleibt als einzige Hoffnung, sich den Rebellen anzuschliessen.
Der radikale Islam nährt sich von all diesen Ungerechtigkeiten, die seit über 15 Jahren andauern und wo eine ganze Generation nichts anderes kennt als Unrecht, Gewalt und Krieg.
swissinfo.ch: Der tschetschenische Konflikt breitet sich auch in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien aus. Haben Forderungen nach Unabhängigkeit noch eine Zukunft?
T.O.: 1994 führte General Dudajew einen Unabhängigkeitskrieg, der sich vor dem Hintergrund mafiöser Strukturen zwischen russischen und tschetschenischen Militärs abspielte. Später kam die Frage ums Erdöl hinzu.
Heute spricht nur noch ein winziger Teil der Tschetschenen von Unabhängigkeit. Der Krieg ist vor allem ein Motor für Korruption und alle Sorten von lokalen Mafia-Organisationen.
Die Leute wollen ganz einfach wieder ein normales Leben führen. Die Tschetschenen leben zur Zeit in totaler Unsicherheit und unter einem völlig willkürlichen Regime. Gewisse Kreise wünschen sich gar, dass die russischen Truppen zurückkehren. Die Milizen von Ramsan Kadyrow verhaften, foltern und morden skrupellos. Ein Staat ohne Recht und Gerechtigkeit.
swissinfo.ch: Werden die Anschläge vom Montag das russische Regime eher schwächen oder stärken?
T.O.: Etliche Russen sind heute der Ansicht, dass die Regierung nicht in der Lage sei, ihre Sicherheit zu garantieren. Die Bevölkerung fürchtet sich vor einer neuen Anschlagsserie. Aber bis jetzt hat eine repressive Politik dem Kreml immer gedient.
Die Vision von Wladimir Putin basiert alleine auf Repression. Man muss sich also auf eine neue Welle von Repression und Rache gefasst machen. Die Bevölkerung erhält keine objektiven Informationen, und die Regierung kann sie nach ihrem Gusto manipulieren.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass Attentate immer den Frieden schwächen.
swissinfo.ch: «Reporter ohne Grenzen» hat in einem Bericht, der im Juni 2009 publiziert wurde, den «Eisernen Vorhang in den Medien» angeprangert, der sich über den Nordkaukasus gelegt habe. Wird dieses Attentat die Arbeit der Journalisten dort weiter erschweren?
T.O.: Mit Sicherheit. Ich habe lange genug in Russland gelebt, um eine negative Entwicklung in Bezug auf die Pressefreiheit festzustellen. Im letzten Jahr wurde Russland auf der Rangliste von «Reporter ohne Grenzen» um weitere 10 Plätze zurückgestuft. Russland liegt nun auf Rang 157 von 170 klassierten Ländern.
Samuel Jaberg, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon verurteile die Anschläge aufs Schärfste.
Der UNO-Sicherheitsrat bezeichnete den Terrorismus als «eine der grössten Bedrohungen für den internationalen Frieden und die Sicherheit».
Die Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey sprach in ihrer Funktion als Präsidentin des Ministerkomitees des Europarats den Familien der Opfer ihr «tiefes Beileid» aus.
Die Aussenminister der 7
grössten Industriestaaten und Russlands (G8) verurteilten die Anschläge bei ihrem Treffen in der kanadischen Hauptstadt Ottawa.
Auch EU-Kommissions-Präsident José Manuel Barroso verurteilte die Anschläge.
US-Präsident Barack Obama bekundete dem russischen Volk seine Solidarität.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach von einem
Rückschlag für die russischen Bemühungen um Sicherheit.
Ähnlich äusserten sich Grossbritannien, Frankreich und Spanien.
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