Der Feminismus – eine lange Geschichte!
Das Lausanner Verlagshaus Editions d'En Bas publiziert zum Anlass der 100. Geburtstags der Revue "Le Mouvement féministe" ein Werk über Fortschritt und Aktualität im Feminismus. swissinfo.ch sprach mit Ko-Autorin Silvia Ricci Lempen.
1912 gründet die Genferin Emilie Gourd, damals 33-jährig, die militante Zeitschrift Le Mouvement féministe. Heute nennt sich die Publikation l’émiliE und wird online vertrieben.
Le Mouvement féministe gilt als die älteste Zeitschrift auf der Welt, die sich den Anliegen der Frauen widmet. Unter dem Titel l’emiliE wird sie heute unterstützt von der Fondation Emilie Gourd. Diese Stiftung hat zwei Westschweizer Autorinnen, Martine Chaponnière und Silvia Ricci Lempen, mit einer Publikation beauftragt, welche die Frauenfrage, die gemachten Fortschritte und die Probleme der Gegenwart thematisiert (Tu vois le genre? Débats féministes contemporains).
swissinfo.ch: Sie behaupten, dass der Feminismus heute weniger als füher interessiert, weil die Gleichberechtigung nun ein Selbstläufer ist. Stimmt das?
Silvia Ricci Lempen: Ja und Nein. Ja, weil die Gleichberechtigung auf gesetzlicher Ebene enorme Fortschritte gemacht hat. Viele Nichtregierungs- , nationale und internationale Organisationen wie die UNO und ihre Agenturen befassen sich heute mit dieser Frage.
In der Schweiz gibt es heute unzählige Gleichberechtigungs-Büros in allen Kantonen und Universtitäten. Deren Arbeit ist oft verbunden mit Problemen, die Familien oder Diskriminierung betreffen. In Frankreich ist die Situation ähnlich.
Nein, denn obschon das Prinzip der Gleichberechtigung in den westlichen Gesellschaften scheinbar angekommen ist, steht es schlecht mit der Umsetzung. Weshalb? Weil die meisten Leute weiterhin denken, dass es natürliche Unterschiede zwischen Mann und Frau gebe, denen man Rechnung tragen müsse. Verbunden ist dies mit einem stark männlich geprägten Unterbewussten. Da dies nun mal so und nicht anders ist, erscheint es mir nicht unbedingt wünschbar, hier koste was es wolle Mentalitäten zu ändern.
swissinfo.ch: Erscheint das nicht irgendwie paradox?
S. R. L: Keinesfalls. Ich bin der Überzeugung, dass proaktive Massnahmen zur Umwälzung des Unterbewusstseins eines Volkes auf direktem Weg zu Kulturrevolutionen führen, à la China oder Pol Pot. Was es braucht, ist eine Begleitung der Bevölkerung in der langfristigen Evolution ihres Gedankenguts.
swissinfo.ch: Wen meinen Sie mit «Bevölkerung»?
S. R. L: Angesichts der bestehenden grossen kulturellen Unterschiede ist es wohl sehr schwierig, eine Studie zur Gleichberechtigung weltweit aufzuziehen. Ich konzentriere mich deshalb auf den Begriff des Feminismus, wie er im Westen verstanden wird.
swissinfo.ch: Dieser Feminismus war in den 70er-Jahren sehr militant, spektakuläre Demonstrationen fanden statt. Hat der inzwischen eingetretene Fortschritt die Feministinnen nicht beruhigt und ihren Eifer etwas abgekühlt?
S. R. L: Ja, sicher. Kurz gesagt, hat sich der Feminismus von der Strasse in die Theorie verlagert. Nebenbei gesagt, geschieht das heute auch in anderen Bereichen, dem gewerkschaftlichen beispielsweise. Generell verlieren alle gemeinschaftlichen Bereiche an Tempo. Zugenommen hat andererseits der Individualismus. Man beschäftigt sich mit sich selbst und verteidigt sein Gärtchen.
Deshalb braucht es eine Theorie. Sie ist genauso nötig wie die Aktion. Dank Theorien lässt sich bis zum Grund eines Problems vorstossen, wie das beispielsweise das Centre en études genre (LIEGE) der Universität Lausanne tut.
Dank wissenschaftlicher Forschung sollen Bürgerinnen und Bürger näher an die Grundfragen des Feminismus gebracht werden.
swissinfo.ch: Wo platziert sich die Schweiz in Sachen Gleichberechtigung beim Geschlecht, beim Lohn und bei den politischen Rechten im Vergleich mit anderen Ländern ?
S. R. L: Was die politische Gleichberechtigung betrifft, steht die Schweiz zum Beispiel klar vor Frankreich oder Italien. Ein grosser Fortschritt, bedenkt man, dass das Frauenstimmrecht erst 1971 eingeführt worden ist. Im Parlament sind rund 30% Frauen, das ist mehr als in Frankreich oder Italien.
Dazu noch eine Bemerkung: Die Schweiz war immer schon ein Land der Quoten – im Gegensatz zum zentralisierten Frankreich. Mit der Zeit hat sich der englische Begriff «Gender» zu anderen Quotenbegriffen wie Sprache, Religion, Kultur etc. gesellt. Soviel zu den Bestandteilen der helvetischen Identität.
Was nun den Lohnunterschied Mann-Frau betrifft, ist von einem Gender-Gap in der Höhe von 18% auszugehen – bei gleicher Qualifikation. Das ist im Rest von Europa nicht anders, ausser vielleicht in Skandinavien. Dort gibt es eine aktive Politik, was die weibliche Präsenz im Führungs- und Kaderbereich der Unternehmen betrifft. Dort gibt es auch signifikant mehr Frauen in den Verwaltungsräten.
swissinfo.ch: Lassen wir die Quoten und wenden wir uns der Kultur zu, wo Frauen oft eine symbolische Rolle spielen. Zum Beispiel in «Desperate Housewives,» wo die gegenwärtigen Widersprüche der weiblichen Existenz gezeigt werden, wie Sie sagen. Was meinen Sie damit?
S. R. L: In dieser weltweit erfolgreichen TV-Serie sind die Protagonistinnen «eingesperrt» in der archaischen Nische des Haushalts. Gleichzeitig agieren sie antikonformistisch und zynisch in der Art, wie sie ihre Rolle als Ehefrau und Mutter spielen. Wir sind angekommen in der äusserst aktuellen Ambivalenz des so genannten Post-Feminismus.
Um es deutlich zu sagen: Einerseits zeigt die TV-Serie eine Gruppe von sehr rückwärtsgewandten Frauen. Anderseits spielt sich das Geschehen in einer sehr aufgeklärten und offenen westlichen Gesellschaft ab.
Naja… Desperate Housewives ist nur eine Fiktion. Und Fiktion ist nicht exakt wie eine Wissenschaft. Dennoch reflektiert diese TV-Serie die Gegensätze der weiblichen Existenz zu Beginn des 21. Jahrhunderts gut.
Die gebürtige Genferin war eine der markantesten Figuren des schweizerischen Feminismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dieser kämpfte an zahlreichen Fronten: Krankenversicherung, Mutterschafts-Versicherung, Schulung und Ausbildung, Lohngleichheit, Zugang der Frauen in alle hierarchischen Bereiche, etc.
Von 1914 bis 1928 präsidierte sie die Schweizerische Vereinigung für das Frauenstimmrecht. In dieser Funktion setzte sich voll für die politischen Rechte der Frauen ein.
Als Journalistin und brillante Rednerin gründete sie 1912 Le Mouvement féministe als Informations- und Propagandablatt für die politischen Rechte der Frau.
Die Publikation wurde in der Folge umgenannt in Femmes suisses, dann in l’émiliE. Diese gibt es heute noch, in Form eines Internet-Portals.
Es handelt sich um die weltweit älteste feministische Publikation.
Die Stiftung ist 1984 gegründet worden, auf Initiative von Jacqueline Berenstein-Wavre.
Zweck der Stiftung ist die Förderung und Entwicklung von Informationen rund um feministische Fragen in der Westschweiz. Bis 2001 hat sie vor allem die Publikation Femmes Suisses respektive l’émiliE unterstützt.
Seither spricht sie auch Beiträge für Bücher, Filme, Theaterstücke und ähnliches, die Frauenfragen betreffen oder unterstützen.
Die Stiftung organisiert auch Kolloquien, wie 2009 über Unterrichtsformen: «Mädchen – Jungen: Falsche Beweise bei gemischten Klassen. Initiativen und gute Praktiken in der Westschweiz.»
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)
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