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Der Krieg wirft ein Licht auf die Leihmutterschaft in der Ukraine

Frauen
In einem unterirdischen Schutzraum in Kiew kümmern sich Mitarbeiter um durch Leihmutterschaft geborene Babys. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved.

Das Geschäft mit der Leihmutterschaft in der Ukraine ist durch den Krieg stark beeinträchtigt worden. Es ist nicht das erste Mal, dass die Verwundbarkeit der Branche aufgedeckt wird.

Mercedes Ferreira-Frey und ihr Mann Roland, die in der Schweiz leben, hätten sich nie vorstellen können, dass mitten in Europa ein Krieg ausbricht, ausgerechnet wenn sie mit ihrem lang ersehnten Baby nach Hause fahren.

Am 24. Februar, dem Tag, an dem die russische Invasion begann, waren sie mit ihrem neugeborenen Sohn Cristiano in Kiew. Der Arzt erschien nicht zu dem Termin für die Untersuchung des Babys. Stattdessen erhielten die Eheleute eine Nachricht auf ihrem Mobiltelefon. «Die Strasse ist blockiert. Ich kann nicht kommen.» Roland sagte gegenüber dem Fernsehsender RTSExterner Link: «Dann sah ich die Nachrichten und verstand, dass der Krieg ausgebrochen war.»

Die beiden hatten Glück, dass sie die Grenze mit dem letzten Konvoi der Schweizer Botschaft überqueren konnten. Sie sind mit ihrem Baby sicher nach Hause gekommen.

Im Bunker 

BioTexCom, die grösste Leihmutterschaftsagentur in Kiew, hat ihren Sitz in einen unterirdischen Bunker verlegt, in dem sich Pflegepersonal rund um die Uhr um die in Leihmutterschaft geborenen Babys kümmert. 

Seit dem Beginn der Invasion sind mehr als zwei Monate vergangen, und nun werden nach und nach immer mehr Babys an die Grenze gebracht, wo ihre Eltern warten. Von den 52 Babys, die seit Beginn des Krieges geboren wurden, warten jedoch noch etwa 20 im Schutzraum.

Günstiger als in den USA 

Nach Angaben von Global SurrogacyExterner Link, einer internationalen Leihmutterschaftsagentur, gibt es mehrere Länder, in denen Leihmutterschaft erlaubt ist, darunter Mexiko, Kolumbien und Kanada. Kommerzielle Leihmutterschaft ist in einigen Bundesstaaten der USA, in Georgien und in der Ukraine legalisiert.

In der Ukraine dürfen ausländische Staatsangehörige Babys empfangen, sofern sie ein verheiratetes heterosexuelles Paar sind. Schätzungen zufolge werden dort jedes Jahr mehr als 2000 Babys durch Leihmutterschaft geboren. Die meisten davon sind Kinder von ausländischen Paaren wie den Freys.

Für Paare aus der Schweiz, wo Leihmutterschaft im Inland verboten ist, ist die Ukraine die zweitbeliebteste Wahl. Laut einer von der Schweizer Regierung in Auftrag gegebenen und von Carolin SchurrExterner Link, Professorin der Universität Bern, durchgeführten ErhebungExterner Link entschieden sich rund 60% der 28 Paare (einschliesslich Alleinerziehende), die 2019 ein Kind durch Leihmutterschaft empfangen haben, für die Vereinigten Staaten, gefolgt von der Ukraine.

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In der Coronavirus-Pandemie 

Die Leihmutterschaft bietet Paaren, die sonst nicht dazu in der Lage wären, die Möglichkeit, ein Kind zu bekommen. Viele Länder haben diese Praxis aus ethischen Gründen verboten.

Deshalb ist das Geschäft mit der Leihmutterschaft für ausländische Paare in Ländern wie der Ukraine weit verbreitet, denn die internationale Nachfrage ist gross. Doch Anika König,Externer Link Sozial- und Kulturanthropologin an der Freien Universität Berlin und assoziierte Wissenschaftlerin an der Universität Luzern, sagt: «Die grenzüberschreitende Leihmutterschaft bringt immer ein Risiko.»

Eine ähnliche Situation wie jetzt mit dem Krieg gab es erst vor zwei Jahren, als die Coronavirus-Pandemie ausbrach. Aufgrund der Reisebeschränkungen konnten die Eltern die Kinder nicht abholen.

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Leihmutterschafts-Babys, die während der neuen Coronavirus-Pandemie auf ihre Eltern warten. Foto aufgenommen in einem Krankenhaus in Kiew, Mai 2020. Copyright 2020 The Associated Press. All Rights Reserved

Die russische Invasion zwang auch ukrainische Leihmütter dazu, sich zu entscheiden: evakuieren oder im Kriegsgebiet bleiben. Würden sie ausserhalb des Landes entbinden, liefen sie Gefahr, dass ihre Babys rechtlich nicht als Kinder ihrer «Kunden» anerkannt würden. 

Zwar kann man eine Pandemie nicht einfach mit einem Krieg vergleichen, aber “beides zeigt, wo die Risiken besonders gross sind: Sobald Grenzübertritte vonnöten sind, macht das solche Arrangements wie Leihmutterschaft anfälliger für Krisen”, sagt König. 

Problematische Standards

Aber auch grundsätzlicher betrachtet gilt laut Schurr, dass die Rechte von Leihmüttern in armen Ländern wie der Ukraine nicht ausreichend geschützt sind.

Im ukrainischen Leihmutterschaftsprogramm zahlen Kunden aus den westlichen Ländern oder China 40’000 bis 50’000 Euro, bis sie ihr Baby in den Armen halten. Doch «die Leihmütter erhalten nur einen Bruchteil davon», so Schurr. Die Leihmütter selbst leiden oft unter den körperlichen und seelischen Belastungen der Hormonbehandlungen und der Schwangerschaft. «Wenn das Kind aber erst einmal geboren ist, kümmert sich niemand mehr um die Leihmutter.»

Ein totales Verbot der grenzüberschreitenden Leihmutterschaft werde das Problem nicht lösen, sagt König. «Dann würde die Leihmutterschaft unter dem Radar stattfinden und Leihmütter noch vulnerabler machen.» Stattdessen sei es sinnvoller, die Leihmutterschaft in allen Ländern, auch in der Schweiz, zu legalisieren und klare ethische Standards und Richtlinien festzulegen, um die Rechte von Leihmüttern, Kindern und Eltern zu schützen.

Schurr betont auch, dass eine internationale Regelung dringend notwendig sei und die Schweiz dabei eine Vorreiterrolle einnehmen sollte. Vor allem die Rechte der Leihmütter müssten angemessen geschützt werden. “Sie müssen gegenüber möglichen gesundheitlichen und psychischen Langzeitfolgen abgesichert werden.”

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