Der Mensch ist, was er wegwirft oder isst
In Privathaushalten dürfte über die Feiertage besonders viel Essbares im Abfallkübel landen. Aber nicht nur die Konsumenten werfen Nahrungsmittel weg, auch die Bauern und Detailhändler tun es. Wer ist schuld an dieser Wegwerfmentalität?
«Diese Birnen mit kleinen Hagelflecken wollen die Leute nicht. Auch kleine Karotten verfüttere ich meistens den Kühen und Schweinen», klagt ein Bauer auf dem Berner Wochenmarkt. «Wir leben in einer verwöhnten Welt, die Kunden kaufen mit den Augen.»
Dass ästhetische Kriterien eine Rolle spielen, bestätigt eine Kundin am Marktstand: «Bei Früchten achte ich darauf, dass sie weder Flecken noch Unregelmässigkeiten haben.» Ein älterer Herr meint, grosse, wohlgeformte Kartoffeln seien praktischer zum Rüsten. «Und sie erzeugen weniger Abfall.»
Immerhin haben die Konsumenten auf den Bauernmärkten die Wahl und treffen nicht nur genormte Waren an. Im Gross- und Detailhandel hingegen gelten für Früchte und Gemüse strenge Qualitätsanforderungen bezüglich Grösse, Gewicht, Länge, Durchmesser, Form und Farbe.
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Die grosse Verschwendung
Aufgezwungene Norm?
Sara Stalder, Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz, ist überzeugt, dass diese Normen nicht auf Wunsch der Konsumenten zustande kamen, sondern von der Industrie diktiert wurden, um den Verpackungs-Mechanismus zu vereinfachen. «Der Konsument wird so erzogen, dass er auf dem Markt nur noch grössere Äpfel kauft, weil er die kleinen nicht mehr im Blickfeld hat.»
Laut dem Grossverteiler Migros sind die Normen für Früchte und Gemüse jedoch nicht Selbstzweck. «Sie sind das Abbild der Kundenbedürfnisse und mit Fakten unterlegt», betont Mediensprecherin Monika Weibel gegenüber swissinfo.ch.
Coop, der andere Schweizer Grossverteiler, führt neben dem konventionellen Angebot auch Produkte der Linie ProSpecie Rara im Sortiment, die «bezüglich Normierung deutlich aus dem Rahmen fallen – in positivem Sinn», wie Mediensprecher Urs Meier erklärt. Und Coop will künftig auch konventionelle Früchte und Gemüse in die Läden bringen, die «nicht der Norm entsprechen».
Trotz solcher Bemühungen kommen aber Agrarprodukte, welche die Vorgaben nicht erfüllen, in der Regel nicht in die Läden: Sie werden auf dem Feld liegengelassen, dem Vieh verfüttert oder zu Konserven oder Biomasse verarbeitet.
Und auch was in den Handel gelangt, wird längst nicht alles konsumiert: Unverkaufte Waren werden vom Detailhandel entsorgt, und über 20% der gekauften Lebensmittel landen – wenn man den verschiedener Studien glaubt – im Müll.
Hört man sich jedoch auf der Strasse um, dann will kaum einer Esswaren wegwerfen, vielleicht ab und zu eine harte Kante Brot, ein Stück schimmligen Käse oder eine angefaulte Frucht. Nahrungsmittel-Verschwendung gehört sich nicht, ist unmoralisch, wo doch Millionen Menschen auf der Erde Hunger leiden – dies der allgemeine Tenor.
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Dein Kühlschrank sagt mir, wer Du bist
Lieber zu viel als zu wenig
«Wahrscheinlich sind sich die Leute gar nicht bewusst, wie viel sie wegwerfen», sagt Michael Siegrist vom Institut für Umwelt-Entscheidungen an der ETH Zürich. «Bei den Konsumenten fallen Abfälle an, weil sie zu viel einkaufen, das Verfalldatum verstreichen lassen oder zu viel zubereiten und nicht alles essen.»
Dazu kommt, dass die Lebensmittel in den letzten Jahren billiger geworden sind. «Daher steigt natürlich auch die Bereitschaft, zu viel zu kaufen und Esswaren auch mal fortzuwerfen», so Konsumentenforscher Siegrist.
Besonders anfällig für Foodwaste seien die bevorstehenden Festtage, sagt Sara Stalder vom Konsumentenschutz: «Man weiss nicht, wie gross der Tisch ist, den man verpflegen darf und kauft auf Vorrat ein, damit man gewappnet ist.»
Das Verschwenden von Nahrungsmitteln steht auch beim Konsumentenschutz auf der Agenda. Deren Geschäftsleiterin stört sich aber daran, dass «die Konsumenten die Hauptsünder in dieser ganzen Geschichte sein sollen». Ihrer Meinung nach muss man schauen, wo die grossen Verluste entstehen, wo man anders steuern könnte, um diese Abfälle zu verringern.
«Man kann nicht nur sagen, der Konsument soll jetzt bitte den Kühlschrank besser im Griff haben, etwas mehr auf die Verbrauchsdaten schauen und nicht zu viel aufs Mal kaufen.» Bei diesem Riesenthema müssten alle Akteure mithelfen.
Rund ein Drittel aller in der Schweiz produzierten Lebensmittel werden nicht konsumiert. So entstehen pro Jahr rund 2 Millionen Tonnen Nahrungsmittelabfälle. Dies entspricht der Ladung von rund 140’000 Lastwagen, die aneinandergereiht eine Kolonne von Zürich bis Madrid ergeben würden.
Fast die Hälfte der Verluste fallen in den Haushalten und der Gastronomie an: Pro Person landen hier täglich 320 Gramm einwandfreie Lebensmittel im Abfall. Dies entspricht fast einer ganzen Mahlzeit.
Zur Produktion der Lebensmittel, die verloren gehen, braucht es bei Schweizer Produktions-Verhältnissen eine Fläche von rund 3500 km2 oder zwei Mal die Fläche des Kantons Zürich.
In anderen Industrieländern sind Ausmass und Ursachen ähnlich wie in der Schweiz.
In Entwicklungsländern ist der Fall anders: Dort gehen mehr Lebensmittel bei der Ernte und bei der Lagerung verloren. Die Konsumenten gehen mit den Lebensmitteln jedoch haushälterischer um und werfen fast nichts weg.
(Quelle: Zahlen basieren auf Studien von Claudio Beretta, ETH Zürich, und João Almeida, Universität Basel)
Der Preis für das volle Angebot
Laut Michael Siegrist liegt es im Interesse aller, die Abfälle zu reduzieren. «Niemand sucht sie oder will sie haben. Kein Konsument hat einen direkten Nutzen, wenn er zu viel einkauft und einen Teil wegwirft, das ist ja Geld, das er ausgegeben hat.»
Aber, so Siegrist: «Wenn die Konsumenten bis um sechs Uhr abends die volle Auswahl bei den Frischbackwaren haben wollen, funktioniert das nur, wenn als Konsequenz viel Abfall produziert wird. Die volle Auswahl haben und gleichzeitig die Nahrungsmittelabfälle minimieren, funktioniert nicht. Das sind Zielkonflikte, die nicht einfach zu lösen sind.»
Um dem unschönen Phänomen der Verschwendung entgegenzutreten, fordert Sara Stalder, die Haltbarkeitsdaten für Produkte aufgrund wissenschaftlicher Kriterien zu koordinieren. Denn der heutige Usus unterschiedlicher Haltbarkeits- und Verkaufsdaten sei irreführend.
«Milchprodukte zum Beispiel haben im europäischen Umfeld längere Haltbarkeitsdauern als in der Schweiz. Da kommt der Verdacht auf, dass die Leute die Produkte möglichst schnell essen oder entsorgen sollen, um wieder neue zu kaufen.»
Weniger Zeit fürs Kochen
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Esskultur rapid gewandelt: Fastfood und Fertigmenus sind beliebt, vollamtliche Hausfrauen zur Specie Rara geworden.
Paradox eigentlich, meint Siegrist: «Noch nie gab es so gut ausgestattete Küchen mit Maschinen, die einem die Arbeit abnehmen. Gleichzeitig wird heute weniger Zeit aufgewendet fürs Kochen und Zubereiteten von Mahlzeiten als früher.»
Wie stark sich diese Veränderung auf die Nahrungsmittelabfälle auswirke, sei schwierig abzuschätzen, da detaillierte Zahlen über Zusammensetzung und Zustandekommen der Abfälle fehlten. Das Problem sei erkannt, so Siegrist, um dagegen anzugehen, müssten jedoch viel mehr Daten erhoben werden.
Mit Information und Aufklärung eine Verhaltensveränderung bei den Leuten zu erreichen, schätzt er als wenig erfolgreich ein. «Denn es ist nicht in erster Linie ein Wissensproblem. Die Konsumenten produzieren die Abfälle nicht bewusst.»
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