Der Offiziersaustausch mit Finnland in Zeiten des Nato-Beitritts: «Wir sind gespannt, wie es weitergeht»
Finnland und die Schweiz verbindet seit dem Zweiten Weltkrieg ein militärisches Projekt, das ein ehemaliger Staatspräsident gestartet hat: den Offiziersaustausch. Vor den finnischen Präsidentschaftswahlen berichtet Andreas Suppiger von der Finnisch-Schweizerischen Offiziersvereinigung im Interview über das Gedenken an Carl Gustaf Mannerheim, den Wehrgedanken in beiden Ländern und was Finnlands Nato-Beitritt ändern könnte.
Der finnische Präsident und Kriegsheld Carl Gustaf Mannerheim hat vor über 70 Jahren eine Tradition lanciert, die bis heute Bestand hat: den Offiziersaustausch.
Auf Initiative von Mannerheim, der seinen Lebensabend in der Genferseeregion verbrachte, kam 1949 erstmals ein finnischer Offizier zum Austausch in der Schweiz.
Die Grösse der beiden bevölkerungsmässig kleinen Länder, das Vertrauen in die Milizarmee und die Neutralität boten lange eine gemeinsame Basis.
Sowohl die Schweiz als auch Finnland waren im Kalten Krieg neutral. Während die Schweiz den Kampf gegen Feinde im In- und Ausland immer nur übte, bot ihnen der finnische Erfolg im Winterkrieg gegen die Sowjetunion 1939/1940 einen Orientierungspunkt.
So feierte die «Allgemeine schweizerische Militärzeitschrift» noch 2011 die «Finnisch-Schweizerische FreundschaftExterner Link» und schreibt zu welchem Vorbild und Mythos Finnland vor und während des Kalten Kriegs für manche in der Schweiz wurde: «Für heutige Menschen» seien die «Emotionen und Hoffnungen», den der «heldenhafte Widerstand der Finnen im Winterkrieg in der Schweiz ausgelöst hat», kaum zu verstehen.
Mit dem Offiziersaustausch hat eine militärische Form der «Finnisch-Schweizerischen Freundschaft» bis heute Bestand.
An dem soll auch der Nato-Beitritt, mit dem Finnland die Neutralität aufgegeben hat, nichts ändern, sagt Andreas Suppiger, Präsident der Finnisch-Schweizerischen Offiziersvereinigung FSOV, im Interview.
SWI swissinfo.ch: Wenn man zum ersten Mal von der Finnisch-Schweizerischen Offiziersvereinigung hört, wirkt das eher exotisch. Wie sind Sie selbst zur FSOV gekommen?
Andreas Suppiger: 2010 begleitete ich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit einen finnischen Kameraden in der Schweiz. Das war ein Offizier, der das sogenannte Mannerheim-Stipendiat gemacht hat. Jährlich laden wir damit einen finnischen Offizier oder eine Offizierin in die Schweiz ein, um die Schweizer Armee kennenzulernen. Im Gegenzug können zwei Schweizer Offiziere, Offizierinnen jedes Jahr nach Finnland.
Durch diesen finnischen Kameraden habe ich erst davon erfahren. Zuvor war mir das ebenso unbekannt wie Marschall Mannerheim, ehrlich gesagt. Danach habe ich mich als Mitglied für die Finnisch-Schweizerische Offiziersvereinigung beworben und durfte dann selbst einmal als Stipendiat die finnischen Verteidigungskräfte besuchen.
Was haben Sie in Finnland erlebt?
Am dankbarsten war ich um den informellen Austausch mit finnischen Kameraden ähnlichen Dienstgrads über Herausforderungen in der Arbeit. Ich lernte die Verteidigungskräfte kennen. Als Schweizer interessierte mich aber auch – weil es für jemanden aus einem Binnenland exotisch ist – die Marine. Im Hauptquartier in Helsinki konnte ich Briefings miterleben, die Verteidigungsakademie in Santahamina kennenlernen und einen Grossteil Finnlands bereisen.
Jedes Jahr ist das Programm des Stipendiums ein bisschen anders, auch abhängig von den jeweils eigenen Interessen. Themen, die die Stipendiatinnen und Stipendiaten verfolgen, sind die Ähnlichkeiten in Ausbildung und Organisationsform.
Wo sind die Ähnlichkeiten?
Die Ähnlichkeit liegt im Milizsystem. Finnland hat, wie die Schweiz, eine allgemeine Wehrpflicht. Das Berufsmilitär hat in diesem System die Aufgabe, die Milizkader in der Führung und Ausbildung ihrer Truppen zu befähigen. Der grosse Unterschied liegt darin, dass in Finnland Jahrgangseinheiten gebildet werden, die dann über ihre gesamte Dienstpflicht zusammenbleiben.
Die Ausbildung wird in Finnland zudem nicht durch Lehrverbände sichergestellt, wie in der Schweiz, sondern durch die Einsatzbrigaden.
Wie ist es auf gesellschaftlicher Ebene: Was ist in der finnischen Gesellschaft und der Schweiz im Hinblick auf Verteidigung gleich?
Den Wehrgedanken spürt man in beiden Nationen. Die allgemeine Wehrpflicht zieht sich durch die Gesellschaft. In der Schweiz sieht man das gut im ausserdienstlichen Vereinswesen, wie zum Beispiel den Schützenvereinen. In Finnland gibt es unter Offizieren, meist an Wochenenden, regelmässige freiwillige Weiterbildungstreffen und grosse Unterstützung der Zivilbevölkerung. An den Truppenstandorten setzen sich zivile Mithelfende ein.
Ehrenamtliche engagieren sich in den Kasernen?
Ja. Es gibt die Frauenbewegung Lotta, die auf dem Waffenplatz einen Kiosk betreiben und Soldatinnen und Soldaten zu sehr günstigen Preisen Esswaren und Hygieneartikel anbieten und sich unentgeltlich einsetzen. Das wird bis heute weitergeführt. In Finnland ist die Unterstützung für das Militär sehr hoch.
Die Wehrpflicht wird noch ausgeprägter gepflegt als in der Schweiz – obwohl die letzten Abstimmungen in der Schweiz, in denen es um die Armee ging, einen guten Rückhalt in der Bevölkerung gezeigt haben. Dass das in Finnland ausgeprägter ist, ist verständlich, weil Finnland seine lange Grenze zu Russland sichern muss und seit kurzem neue Nato-Aussengrenze ist.
Was ändert sich im Austausch durch den Nato-Beitritt Finnlands?
Da müssen wir nun Erfahrungen sammeln, wie Finnland sich als Nato-Mitglied entwickelt. Bisher war der Austausch sehr offen. Wir sind nun gespannt, wie es weitergeht: Werden wir weiterhin mit derselben Offenheit sprechen können oder gibt es da gewisse Restriktionen, die Finnland von Seiten Nato auferlegt werden? Da haben wir noch keine Erfahrungswerte, aber Finnland ist weiterhin interessiert.
Ich glaube für die Schweizer Seite bleibt der Austausch interessant. Die politische Agenda sieht einen stärkeren Austausch mit der Nato vor und die Schweiz wirkt ja als Nichtmitglied im Partnership for Peace-Programm mit. Da können wir bei unseren finnischen Kameraden Luft schnuppern und Erfahrungen mitnehmen.
In der Schweizer Öffentlichkeit galt Finnland während des Kalten Kriegs als Orientierungspunkt für einen neutralen Staat, der sich aktiv und erfolgreich gegen die Sowjetunion wehrte. Dies ist in den letzten 30 Jahren vielleicht in den Hintergrund gerückt, aber seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wieder aktueller. Mit dem Nato-Beitritt fällt die Neutralität als Gemeinsamkeit weg.
In Zukunft müssen wir schauen, über welche Themen wir sprechen können. Ich hoffe, die Offenheit wird Bestand haben. Wie gesagt, können wir als Schweizer von der finnischen Seite viel profitieren.
Sie werden jetzt ihr Verteidigungsbudget aufstocken, damit sie den von der NATO geforderten Anteil von 2% am Bruttoinlandprodukt für Verteidigung ausgeben. Das ist spannend: Wie machen sie das? Wie ist der Rückhalt in der Bevölkerung? Wie wird das begründet? Auch in der Schweiz stocken wir das Verteidigungsbudget auf, nicht im selben Mass, aber immerhin. Vielleicht wird es Gelegenheit für einen Austausch dazu geben, wie wir das den Bevölkerungen erklären.
Für uns war schon immer eindrücklich zu sehen, wie die finnischen Kameraden ihr Budget einsetzen, wie sie in der Ausbildung sehr pragmatische Lösungen finden und das Beste aus ihren Mitteln rausholten.
Ihr Budget war bisher kleiner als jenes der Schweizer Armee und sie schafften es damit sogar eine Marine zu betreiben. Es muss in der Ausbildung nicht in jedem Fall das High-End-Produkt sein, wie wir das in der Schweiz kennen. Man kann auch einfachere Ansätze fahren.
Wissen Sie, warum Carl Gustaf Mannerheim 1949 damit begann, finnische Offiziere in die Schweiz einzuladen?
Es ging darum, finnischen Offizieren den Besuch von Ausbildungen der Schweizer Armee zu ermöglichen. Seit 1970 machen Schweizer Offiziere einen jährlichen Gegenbesuch in Finnland. Zu Beginn wurde dieser von der Schweizerischen Vereinigung der Freunde Finnlands SVFF organisiert, seit 1989 steht er unter der Schirmherrschaft der damals gegründeten Finnisch-Schweizerischen Offiziersvereinigung FSOV.
Der Antrieb der FSOV war, das Andenken an den Marschall Mannerheim zu pflegen. Mannerheim, den die Finnen als Nationalheld betrachten. Mannerheim schätzte die Schweiz und ihre Bevölkerung sehr. Er verbrachte seinen Lebensabend in der Klinik Valmont bei Montreux. Dass ihr Marschall einige schöne Jahre in der Schweiz verbringen konnte, wird der Schweiz von Finnland hoch angerechnet.
Carl Gustaf Mannerheim war von 1944 bis 1946 Staatspräsident Finnlands, danach verbrachte er am Genfersee seinen Lebensabend. Dort schrieb er seine Memoiren und stiftete das erste Stipendium, mit dem finnische Offiziere die Schweizer Armee kennenlernen können. Mannerheim gilt als nationale Integrationsfigur in Finnland, weil es ihm gelang, erfolgreich den Widerstand gegen die sowjetische Armee 1939/1940 zu organisieren. 1941 bis 1944 führte Finnland an der Seite von Nazideutschland unter Mannerheim den sogenannten «Fortsetzungskrieg» gegen die Sowjetunion. Mannerheim prägte die Schweizer Wahrnehmung Finnlands gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz «massgeblich».
Immer Anfang Juni feiern wir das Gedenken beim Mannerheim-Denkmal in Montreux-Territet. Insgesamt nehmen etwa 250 Leute an dem Gedenken teil. Neben unseren Mitgliedern kommen die Leute vom SVFF, Vertreter aus der Armeeführung, von den Botschaften und das Stadtpräsidium von Montreux. Regelmässig reisen auch Finninnen und Finnen extra für die Gedenkfeier nach Montreux.
Wir gedenken den Verdiensten von Marschall Mannerheim und versuchen dabei auch, eine Brücke zur Schweiz zu schlagen: zum Wehrgedanken, zu einer kleinen Nation mit einer eher kleinen Armee, die sich aber in einem Notfall verteidigen könnte.
Auch ein zweiter Kommandant der finnischen Armee in den 1940er-Jahren hatte einen Schweiz-Bezug: Karl Lennart Oesch war bis zu seinem Eintritt in die finnische Armee ein Auslandschweizer in zweiter Generation. Gedenkt Ihre Vereinigung auch dieser Figur?
An unseren Feiern machen wir immer den Bogen zu ihm, der seine Wurzeln im Kanton Bern hat. Lange führte Oesch ein Schattendasein in der finnischen Geschichtsschreibung, aber wir bemerken vermehrt, wie seine Geschichte auch von finnischer Seite aufgerollt wird.
Karl Lennart Oesch ist der Sohn von ausgewanderten Schweizer:innen, die in Finnland eine Käserei betrieben. Oesch kämpfte als Freiwilliger für das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg und machte danach Militärkarriere in Finnland. Er verzichtete auf die Schweizer Staatsbürgerschaft, als er finnischer Berufssoldat wurde. Während der Kriege 1939/1940 und 1941 bis 1944 war er Generalleutnant und galt als Militärgenie. Nach dem Waffenstillstand mit der Sowjetunion musste Oesch auf Drängen von Stalin als Kriegsverbrecher ins Gefängnis. Erst 2008 rehabilitierte die Schweizer Botschaft Oesch mit einer Tagung in Helsinki. Über sein Selbstverständnis habe Oesch zeitlebens gesagt: «Ich bin zwar in Finnland geboren, von der Herkunft aber bin ich eindeutig Schweizer.»
Seit zwei Jahren haben wir auch einen Nachfahren der Familie Oesch bei der FSOV. Wir diskutierten auch schon darüber, ob wir die Schweizer Stipendiatinnen und Stipendiaten in Finnland Oesch-Stipendiaten nennen sollten. Aus Traditionsgründen haben wir uns aber dagegen entschieden.
Wie hat Ihr eigener Austausch ihren Bezug zu Finnland als Land geprägt?
Seit dem Austausch bin ich einige Male nach Finnland gereist, mit der Familie während der Ferien oder zu sogenannten Wiederholungskursen, die wir mit der Offiziersvereinigung organisieren.
Da besuchen Ehemalige zusammen mit Familienangehörigen das Gastland. Dabei erhalten wir Updates über die finnische Armee, aber pflegen auch den Austausch zur finnischen Kultur und Gesellschaft. Das wird nächstes Mal 2025 in Finnland stattfinden. Wir freuen uns auf das zahlreiche Wiedersehen mit unseren finnischen Kameraden und den Einblick in die finnische Armee, aber auch die finnische Kultur.
Editiert von David Eugster
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch