Der umstrittene Boom der Babyfenster
Babyfenster bereiten zahlreiche Probleme ethischer, menschlicher und rechtlicher Natur. Und sie bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone, weil gegen die Meldepflicht verstossen wird. Trotzdem entstehen in der Schweiz immer mehr Babyfenster oder Babyklappen.
Bis Juni 2012 war eine solche Einrichtung auf Einsiedeln beschränkt. Am dortigen Spital war das Babyfenster im Mai 2001 eröffnet worden. Die Initiative war von der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) ergriffen worden, einer Stiftung, welche gegen Abtreibung kämpft sowie Frauen, Paare und Familien berät, die durch Schwangerschaft oder Geburt eines Kindes in Not geraten.
In den letzten eineinhalb Jahren wurden drei weitere Babyfenster eröffnet: in Davos, Olten und Bern. Drei weitere sind im Tessin, im Wallis und in Zürich geplant. In weiteren Kantonen sind entsprechende Initiativen hängig.
«Diese Entwicklung zeigt, dass eine klare Nachfrage nach diesen Einrichtungen besteht», erklärte Bundesrätin und Justizministerin Simonetta Sommaruga im Dezember in ihrer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von Ständerätin Liliane Maury Pasquier. «Aber es ist auch klar, dass es weiterhin viele ungelöste Probleme mit den Babyfenstern gibt», präzisierte die Sozialdemokratin Sommaruga.
Babyfenster gibt es in einigen Schweizer Spitälern. Sie werden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind (SHMK) eingerichtet. Die Organisation übernimmt auch alle Kosten für das Baby bis zu seiner Adoption.
Das Babyfenster ist ein Hilfsangebot für extreme Notsituationen. Es ermöglicht einer Mutter, die sich in einer ausweglosen Lage befindet, ihr Kind anonym in sichere Hände zu übergeben.
Die Mutter öffnet das Fenster, legt das Baby in das bereitstehende Wärmebettchen, nimmt den «Brief an die Mutter» an sich, schliesst das Fenster wieder und entfernt sich. Im Spital ertönt nach drei Minuten der Babyfenster-Alarm: Eine Hebamme kommt und nimmt sich des Kindes an.
Nach ein paar Tagen kommt es zu Pflege- und später zu Adoptiveltern. Die Mutter und der Vater des Kindes haben das Recht, das Kind bis zum Vollzug der Adoption zurückzufordern. Eine Adoption kann frühestens ein Jahr nach der Abgabe des Kindes erfolgen.
Im «Brief an die Mutter» steht, dass Eltern, die sich vor oder nach der Abgabe des Babys bei der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind telefonisch melden, kostenlose Hilfe und Beratung erhalten.
Seit dem 13. Mai 2001, als das erste Schweizer Babyfenster in Einsiedeln eingerichtet wurde, wurden dort acht Neugeborene abgegeben. Nur in einem Fall entschloss sich die Mutter, das Kind zurückzunehmen. Insgesamt fünf Mütter teilten ihre Identität den Vormundschafts-Behörden oder der SHMK mit.
In den Babyfenstern von Davos, Olten und Bern wurden bisher keine Neugeborenen abgegeben.
Emotionen im Spiel
«Wenn es darum geht, Neugeborene zu retten, ist sehr viel Emotionalität und keine Rationalität im Spiel. Auf dieser emotionalen Grundlage werden diese Strukturen geschaffen», sagte Liliane Maury Pasquier.
In der Schweiz sind Findelkinder ausgesetzte Neugeborene eine Seltenheit, doch jeder einzelne Fall erschüttert die Öffentlichkeit. Nach einigen dieser seltenen Vorfälle wurde der Ruf nach einem Babyfenster laut. Eine Reihe von Politikern und Ärzten wandte sich mit dem entsprechenden Begehren an die Schweizerische Hilfe für Mutter und Kind (SHMK), wie Präsident Dominik Müggler bestätigt.
So kommt es nun auch zum ersten Babyfenster der lateinischen Schweiz. Ab Ende März 2014 wird eine Babyklappe am Regionalspital San Giovanni in Bellinzona zur Verfügung stehen. «Der Entscheid wurde sehr gut abgewogen», sagt Spitaldirektor Sandro Foiada.
Man habe diesen Schritt sehr rational getan, nachdem es Treffen mit Dominik Müggler und den Verantwortlichen bereits existierender Babyfenster gegeben habe. Zudem habe man mit den Behörden und Politikern vor Ort gesprochen, präzisiert Foiada.
Mütter sich selbst überlassen
Sandro Foiada ist sich sehr bewusst, dass mit einem Babyfenster viele Probleme ungelöst bleiben, aber er ist der Auffassung, «dass man pragmatisch sein muss und vor bestimmten Realitäten nicht die Augen schliessen kann.» Leider existiere das Problem ausgesetzter Neugeborener. «Wenn ein Babyfenster hilft, auch nur eines dieser Kinder zu retten, hat es sich schon gelohnt», so Foiada.
Ganz anderer Ansicht ist die Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz, die im Bereich der Familienplanung und Sexualerziehung tätig ist. Im vergangenen Juli hat sie an alle Direktoren der kantonalen Gesundheitsdepartemente und an kantonale Politiker einen Brief geschrieben, in dem dazu aufgerufen wird, «in kritischer Weise die Ausweitung dieses Angebots zu hinterfragen».
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«Es ist von grundlegender Wichtigkeit, dass Mutter und Kind vor, während und nach der Geburt Zugang zu einer ganzen Palette von Betreuungsangeboten haben. Es braucht Rahmenbedingungen, in denen die Mütter medizinisch, psychisch und sozial betreut werden. Bei einem Babyfenster fehlen alle diese Aspekte», hält Mirta Zuini, eine unabhängige Rechtsberaterin dieser Organisation, fest.
Alternative der vertraulichen Geburt
Diese Aspekte einer ganzheitlichen Betreuung werden hingegen bei der so genannten «vertraulichen oder auch diskreten Geburt» geboten. Die Frau wird während ihrer Schwangerschaft von einem Profi-Team begleitet. Sie kann im Spital gebären, ohne dass Dritte davon erfahren. Die Mutter erhält auch Beratung zu den Rechten und Möglichkeiten einer sofortigen Freigabe des Neugeborenen zur Adoption.
«Das Problem ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung gar nicht weiss, dass diese Möglichkeit der vertraulichen Geburt existiert. Daher sieht man darin auch keine Alternative zum Babyfenster», meint Liliane Maury Pasquier, die sich im Parlament dafür stark gemacht hat, dass mehr über diese Möglichkeit informiert wird.
Die SP-Ständerätin aus Genf verlangt in einem Postulat, dass der Bundesrat eine vollständige Erhebung zu Babyfenstern und anderen Massnahmen zur Hilfe von in Not geratenen Müttern erstellt. Gemeinsam mit den Kantonen und interessierten Organisationen sollen dann allenfalls Massnahmen eingeleitet werden. «Ich hoffe, dass es dieses Vorgehen ermöglicht, die Bevölkerung besser über die Möglichkeit einer vertraulichen Geburt aufzuklären.»
Gemäss der Schweizerischen Hilfe für Mutter und Kind wäre in der Schweiz ein Netz von 8 bis 10 Babyfenstern nötig, die regional gleichmässig verteilt sein müssten. Die Stiftung finanziert keine Babyklappen, die sie nicht als notwendig erachtet, präzisiert Präsident Dominik Müggler gegenüber swissinfo.ch.
So gibt es beispielsweise Bestrebungen, in Basel-Landschaft ein Babyfenster einzurichten. Doch die SHMK würde dieses nicht finanzieren, wenn ein entsprechender Entscheid gefällt werden sollte, da im benachbarten Olten (Kanton Solothurn) bereits ein solches Angebot besteht.
Aus demselben Grund würde ein zweites Babyfenster in Bern, über das diskutiert wird, nicht von der SHMK finanziert. In diesem Falle müssten der Staat oder andere Stiftungen imd Organisationen für die Kosten aufkommen.
Anonyme Geburt in weiter Ferne
Die vertrauliche Geburt stösst in interessierten Kreisen auf grosse Gegenliebe. «Wir sind auch der Meinung, dass die Informationen über die vertrauliche Geburt intensiviert werden müssen», sagt Anita Cotting, Direktorin von Sexuelle Gesundheit Schweiz. Ganz ähnlich tönt es bei Dominik Müggler: «Wir haben immer klar gesagt, dass wir alle Möglichkeiten unterstützen, welche eine Geburt vereinfachen. Wir begrüssen sowohl die vertrauliche Geburt als auch die anonyme Geburt», betont der SHMK-Präsident.
Was ist der Unterschied? Bei der vertraulichen Geburt wird die Identität der Mutter an die Behörden weiter geleitet und ein Kind hat das Recht, diese Identität zu erfahren. Bei der anonymen Geburt ist dies nicht so. Es wird daher von Personen bekämpft, die für das Recht von Kindern einstehen, ihre biologische Abstammung zu kennen.
In der Antwort auf die Interpellation von Maury Pasquier hat die Schweizer Regierung explizit erwähnt, dass zu prüfen wäre, «ob künftig nicht auch eine Möglichkeit zur anonymen Geburt geschaffen werden könnte.» Die Organisation Sexuelle Gesundheit Schweiz würde diese Option befürworten, wenn die schwangere Frau gleichzeitig medizinisch und psychisch-sozial betreut würde, präzisiert Anita Cotting.
Auf alle Fälle müssten für die Möglichkeit einer anonymen Geburt noch die notwendigen rechtlichen Grundlagen geschaffen werden, wie Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Parlament erklärte. Ein entsprechendes Gesetz ist in naher Zukunft aber nicht zu erwarten.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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