Nachbarn, und doch eine halbe Welt dazwischen
"Zu viele Deutsche in der Schweiz" …: So tönt versuchte Stimmungsmache gegen die nachbarlichen Zuwanderer. Wie erleben Deutsche ihr Gastland, dessen Einwohner und ihre Eigenarten? Ein Gespräch mit drei Deutschen in der Schweiz.
Sandra Günter, 41-jährig, aus Hamburg, Professorin für Sportsoziologie an der Uni Bern; Gerald Rinke, 46, gebürtig aus Leipzig in der ehemaligen DDR, arbeitet bei einem Kommunikationsunternehmen in Bern; Ulf Schiller aus Köln, 50-jähriger Wirtschaftsprofessor an der Universität Basel: Drei Deutsche, die in der Schweiz leben und arbeiten.
Wie die meisten ihrer 279’000 Landsleute in der Schweiz – Stand April 2012 – sind sie sehr gut ausgebildet, helfen tatkräftig mit, den Schweizer Binnenkonsum in Schwung zu halten, und die Verständigung mit ihnen stellt auch kein grösseres Hindernis dar.
Sind «die Deutschen» also die «Traum-Einwanderer» der Schweiz? «Wahrscheinlich stimmt das», sagt Ulf Schiller, der seit 10 Jahren mit seiner Familie in der Schweiz lebt, genauer in Säriswil bei Bern. Jedenfalls sei die grosse Präsenz deutscher Akademiker in der Schweiz kein Zufall, weil diese zu wenig eigenen akademischen Nachwuchs produziere.
«Sehr viele deutsche Akademiker wandern auch wieder zurück. Das ist vielen in der Schweiz nicht bewusst», sagt Sandra Günter.
Sie rechnet selbst damit, dass sie ihre akademische Karriere ausserhalb der Schweiz fortsetzen wird. Ulf Schiller und Gerald Rinke dagegen werden hier bleiben.
Zwar sei er nicht irgendjemand, wenn er das Auto falsch parkiert habe, sondern ein Deutscher, der das Auto falsch parkiert habe, sagt Schiller. «Ansonsten bewege ich mich aber in einem komplett normalen Umfeld. Zu meinen schweizerischen, deutschen, italienischen oder kanadischen Freunden habe ich dasselbe natürliche Verhältnis, wie ich es hätte, wenn ich noch in Deutschland lebte.»
Die kulturellen Unterschiede würden wohl deshalb so hervorgehoben, weil sie so gering und die Ähnlichkeiten so gross seien, sagt Sandra Günter, die vor gut drei Jahren in die Schweiz kam.
Für Gerald Rinke, vor über zehn Jahren der Liebe wegen in die Schweiz gekommen, sind die Unterschiede zwischen der Schweiz und Süddeutschland nicht grösser als diejenigen zwischen Süddeutschland und dem übrigen Deutschland. Trotzdem erfahren die drei in der Schweiz Unterschiede, die teils gewaltig sind.
Stolz/Schande
«Aufgrund der jüngeren Vergangenheit Deutschlands bin ich so aufgewachsen, dass ich mich eher schäme zu sagen, ich bin Deutsche. Und schon gar nicht bin ich stolz auf Deutschland», sagt Sandra Günter.
Anders in der Schweiz. «Hier ist man in der Regel in einem Bewusstsein gross geworden, dass es etwas Tolles sei, Schweizerin oder Schweizer zu sein, und dass es ein Privileg und etwas Besonderes sei, hier leben zu dürfen», so Günters Eindruck.
Mit Nationalstolz hat Gerald Rinke generell so seine Mühe, denn «ein Kind kann nichts dafür, dass es in Deutschland oder in der Schweiz geboren ist».
Mühe bereitet dem gebürtigen Ostdeutschen auch die hiesige Streitkultur.
«Sage ich meine Meinung, sei es über Politik oder andere Themen, wird das immer sehr persönlich genommen. Es tut mir nicht weh, wenn mir ein Schweizer sagt, dass die deutsche Bundeskanzlerin nicht fähig ist, ein Problem zu lösen. Aber Schweizern tut es weh, wenn ich dasselbe vom Bundesrat behaupte.»
Gerade in solchen Situationen vermisst Rinke auf Schweizer Seite doch etwas die Lockerheit und den Humor als Mittel zur Entspannung. «In Deutschland werden oft Witze gemacht über die Unterschiede, etwa zwischen ‹Wessis› und ‹Ossis'».
Gerald Rinke registriert aber nicht nur Differenzen, sondern lernt auch. «Ich kann besser zuhören. In Diskussionen hört man hier erst ganz, ganz lange zu, bevor man etwas sagt, während man in Deutschland erst einmal lange spricht.»
Seine Persönlichkeitsentwicklung gehe auch «ganz stark in diese Richtung», sagt Ulf Schiller, «sehr viel stärkeres Respektieren der Anderen, sehr viel stärkeres Hineindenken ins Gegenüber».
Sie sei zurückhaltender und bescheidener geworden und lerne auch Neues kennen, beispielsweise Schweizer Wein, sagt Sandra Günter.
Mundart/Hochsprache
Kompliziert wird es bei der Sprache, dem klassischen Konfliktherd. «Ich weiss nicht, ob es überhaupt erwünscht ist, Mundart zu sprechen», sagt Sandra Günter. Sie habe ein Jahr gebraucht, bis sie Mundart verstanden habe. Sie fordert ihre Gesprächspartner konsequent auf, Mundart zu sprechen.
Ab und zu ein Wort in Mundart einstreuen, bringe hoffentlich etwas Charme, sagt Ulf Schiller. Mehr sollten Deutsche aber besser bleiben lassen. «Als ich neu in der Schweiz war, hatte mir mein Mitarbeiter als erstes geraten, bloss nicht den Fehler zu machen, Mundart zu sprechen, weil das nur lächerlich wirke.»
Tabus/Freiräume
Ist in der Schweiz von «diesen Deutschen» die Rede, macht das Gerald Rinke keine Angst. «Erschreckend» findet er aber, dass sich eine Partei mit einem Wähleranteil von knapp 30%, gemeint ist die Schweizerische Volkspartei (SVP), soweit rechts aus dem Fenster lehnen könne. «Wenn ein deutscher Politiker den Begriff der Internierungslager für Asylsuchende geprägt hätte, wäre er weg vom Fenster.»
Rinke befürwortet die direkte Demokratie, findet es aber «schon seltsam, wenn Schweizer Bürger über eine Energievorlage abstimmen müssen, «deren Konsequenzen selbst Experten nicht genau abschätzen können».
Schiller beunruhigt, dass die direkte Demokratie immer mehr als Bühne zum Schlagabtausch zwischen einem rechtem und linkem Flügel missbraucht werde. Dabei werde die dringend anstehende Definition des wirtschaftlichen Verhältnisses zur EU hinten angestellt.
Gleichzeitig ist Schiller aber von der Sachkompetenz des Souveräns «sehr beeindruckt. In Wirtschaftsfragen, von denen ich etwas verstehe, entscheidet das Schweizer Volk meist so, wie ich denke, ‹das muss man so machen und nicht anders'».
Alle drei würden es begrüssen, wenn sie in der Schweiz wählen und abstimmen könnten, zumindest nach einer gewissen Aufenthaltsdauer und auf kommunaler Ebene.
«Ich habe komplett unterschätzt, was es bedeutet, an einer Gemeindeversammlung ein Votum für oder gegen eine Schulschliessung abgeben zu können. Auf dieser Mikroebene vermisse ich schon sehr stark, mich einbringen zu dürfen», sagt Ulf Schiller.
Ende April 2012 lebten in der Schweiz 1’789’374 Ausländer, das sind 22,6% der Gesamtbevölkerung.
Davon waren 279’672 Personen Deutsche, 11’500 mehr als im Vorjahr. Grösser war nur noch die Gruppe der Italiener (291’000 Personen).
Dazu kommen noch rund 50’000 deutsche Grenzgänger.
Der Anteil der Deutschen an der Schweizer Gesamtbevölkerung liegt bei rund 3,5%.
Der starke Anstieg ihrer Präsenz ist eine Folge der Einführung des freien Personenverkehrs der Schweiz mit der EU 2002.
In der Schweiz stammte jeder 8. Top-Manager, jeder 5. Universitäts-Professor und jeder 10. Arzt aus Deutschland.
In einigen Spitälern machen deutsche Ärzte gar einen Drittel aus.
Allein durch die rund 3000 deutschen Ärzte, die in der Schweiz arbeiten, sparte die Schweiz Ausbildungskosten von rund 3 Milliarden Franken ein (Quelle: Avenir Suisse, 2011).
Die eingesparten Ausbildungskosten dürften aber noch höher sein: Deutsche Ärzte, die in der Schweiz als Grenzgänger arbeiten, und Ärzte, die sowohl die schweizerische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, sind in keiner Statistik erfasst.
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