Die Diaspora als ungehobener Schatz des Kosovo
Arbeitslosigkeit, Armut, Korruption, Ineffizienz: Kosovo hat riesige Probleme. Zehntausende haben in den letzten Monaten das Land verlassen. Für einige junge Kosovaren in der Schweiz jedoch ist der kleine Balkanstaat Synonym für ein Land voller Chancen und Perspektiven.
«Ich sage meinen Angestellten in Pristina immer: Hier sind wir in der Schweiz, der Kosovo beginnt jenseits des Fensters», sagt Drenusha Shala, Leiterin eines Call CenterExterner Link in der kosovarischen Hauptstadt. «Wir haben die schweizerische Arbeitsmentalität in den Kosovo mitgebracht: Effizienz, Präzision, Qualitätsbewusstsein und Konstanz», unterstreicht die junge Unternehmerin, die in Greifensee im Kanton Zürich aufgewachsen ist.
Drenusha Shala kam mit sieben Jahren mit ihrer Familie als Flüchtling in die Schweiz. Hier machte sie eine Ausbildung als kaufmännische Angestellte. 2012 entschied sie mit zwei albanischen Freunden, auch sie in der Schweiz aufgewachsen, gegen den Willen ihres Vaters, in ihr Land zurückzukehren um einen Telefondienst aufzubauen. «Ich habe dies aus wirtschaftlichen Gründen gemacht, ganz klar, aber auch aus einem gewissen Patriotismus: ich möchte meinem Land helfen», sagt die junge Frau.
Personal zu finden, das mit einer hauptsächlich deutschsprachigen Kundschaft zusammenarbeitet, sei nicht schwierig gewesen. «Viele Kosovaren sind wie ich vor oder während des Krieges nach Europa gegangen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sie Deutsch gelernt. Der grösste Teil von ihnen ist wieder zurückgeschickt worden, und so gibt es viele Leute, die die Sprache beherrschen».
Ein weiterer Trumpf des Balkanstaates sind die tiefen Löhne. «Diese sind durchschnittlich zwanzig Mal tiefer als in der Schweiz», stellt Drenusha Shala fest. Auch wenn ich den Angestellten 540 Euro monatlich zahle, das Doppelte des nationalen Durchschnitts, ist es möglich, auf dem europäischen Markt konkurrenzfähige Tarife anzubieten», sagt sie.
Die dynamische und bestimmt auftretende 25-Jährige ist vom «grossen Potenzial» des kleinen Balkanstaates überzeugt. «Mit wenigen Mitteln kann man Erfolg haben», lautet ihr Credo. Die Zahlen, die sie uns vorlegt, geben ihr recht: Wachstum und Personalbestand wurden Jahr für Jahr verdoppelt und von anfangs sieben Mitarbeitern ist der Bestand auf 156 angestiegen. Heute, sagt sie, zähle ihre Firma zu den grössten Arbeitgebern in Pristina.
Migration mit Qualität
Schweiz und Kosovo
Bern und Pristina unterhalten enge Beziehungen. Die Schweiz ist eine der wichtigsten Gebernationen des Balkanstaates und beherbergt eine der grössten kosovarischen Diaspora in Europa.
Diplomatische Beziehungen: Die Schweiz hat am 27. Februar 2008 den Kosovo anerkannt, zehn Tage nach der Ausrufung der Unabhängigkeit. Seither wurden verschiedene bilaterale Verträge unterzeichnet (zum Beispiel zur technischen und finanziellen Zusammenarbeit und zum Schutz der Investitionen).
Mitarbeit: Die Zusammenarbeit mit der heutigen Republik Kosovo geht auf das Ende des bewaffneten Konfliktes von 1998/99 zurück, als die Schweiz humanitäre Hilfe und Hilfe zum Wiederaufbau leistete. Heute konzentriert sich die Unterstützung auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung. Seit 1999 nimmt die Schweizer Armee an der Friedensmission KFOR teil. Insgesamt stellt Bern rund 65 Millionen Franken zu Gunsten de Kosovos bereit.
Handel: Der Austausch ist bescheiden. Die Schweizer Exporte belaufen sich auf total 22 Millionen Franken, die Importe auf 8 Millionen.
Migration: Die ersten Arbeiter aus dem Kosovo kamen bereits in den 1960er Jahren in die Schweiz. Heut leben rund 95’000 kosovarische Staatsbürger in unserem Land. Zählt man auch die Schweizer kosovarischer Herkunft dazu, verdoppelt sich die Anzahl.
Quelle: EDA
Bashkim Iseni ist Gründer von albinfo.chExterner Link, einer Informationsseite, die sich an die albanisch sprechende Diaspora in der Schweiz richtet. Er hält das Modell von Drenusha Shala durchaus für nachahmenswert. «Für jene, die das ganze Leben in der Schweiz verbracht haben, ist eine Rückkehr in den Kosovo schwierig. Die zweite Generation jedoch hat viele Möglichkeiten: Sie hat sich Wissen angeeignet, eine Schweizer Schulbildung erhalten und gleichzeitig kennt sie die albanische Mentalität und Kultur», sagt er.
Es gibt diverse junge Ingenieure, die im Kosovo Fuss fassen wollen, stellt Bashkim Iseni fest. «Das ist eine Migration mit Qualität: Leute, die neue Produkte und Technologien lancieren». Er nennt das Beispiel von drei Unternehmern, die auf dem Schweizer Markt tätig sind. Sie möchten in der Stadt Ferizaj, dem zweitwichtigsten Wirtschaftszentrum des Landes, eine ultramoderne Abfallentsorgungs-Zentrale realisieren.
Das steigende Interesse der Kosovaren in der Schweiz, in ihrem Land zu investieren und Geschäfte zu machen, bestätigt auch Andreas Ragaz, Leiter des Start-Ups FundExterner Link, ein Programm des Staatssekretariats für Wirtschaft (seco) zur Förderung des privaten Sektors in Schwellen- oder Transitländern. «Die vielversprechendsten Sektoren im Kosovo sind Landwirtschaftsprodukte und Lebensmittel sowie Bauwirtschaft und erneuerbare Energien», sagt Ragaz zu swissinfo.ch. Die Herstellung von Holz-Pellets und von Papiersäcken gehören zu den unterstützten Projekten.
Auch Drenusha Shala konnte auf die Unterstützung der Schweiz zählen. Im Rahmen eines Programmes für die Verbesserung der Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt für junge Kosovaren (Projekt EYEExterner Link) erhielt sie einen Beitrag von 30’000 Franken. «Die Summe diente zur ISO-Zertifizierung des Betriebes. Diese indirekte Art, Arbeitsstellen zu schaffen, verleiht uns mehr Glaubwürdigkeit und vergrössert die Wachstumsmöglichkeiten», erklärt sie.
Rechtliche Unsicherheit
Ist der seit 2008 unabhängige Kosovo also das neue gelobte Land? Nicht ganz. Im Balkanstaat lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosenquote liegt bei 50% und einer von drei Jugendlichen ist ohne Arbeit. Korruption, eine langsame Bürokratie und die Instabilität der Institutionen bremsen die Entwicklung des Landes und desillusionieren die Bevölkerung, beobachtet Bashkim Iseni.
Auch das restliche Europa hat diese Situation in den vergangenen Monaten erneut aufmerksam verfolgt. Seit dem Ende des Krieges 1999 gab es keinen solchen Exodus mehr, rund 100’000 Personen haben im letzten Winter den Kosovo verlassen, um anderswo nach besseren Perspektiven zu suchen, vor allem in Deutschland, Frankreich und Österreich.
«Das Phänomen des Exodus› hat sich mittlerweile stabilisiert, auch weil jene gegangen sind, die gehen wollten», so der Leiter von albinfo.ch. Geblieben seien jedoch die Probleme. Für jene, die im Kosovo bleiben möchten, sei die rechtliche Unsicherheit das grösste Problem, sowohl für die Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer, stellt Drenusha Shala fest.
«Wenn wir möchten, könnten wir unseren Arbeitnehmern Arbeitsbedingungen anbieten, die nicht dem Vertrag entsprechen. Auch die Mitarbeitenden ihrerseits könnten uns schaden, ohne dass wir dagegen etwas machen könnten», sagt sie. Sollte es zu einem Gerichtsverfahren kommen, wäre der Gerichtsstand ihres Unternehmens die Schweiz, dies wäre wirkungsvoll und würde die Glaubwürdigkeit gegenüber dem Kunden erhöhen.
Als sie im Kosovo ankam, war sie überrascht über die Informationslücken. «Wir wussten nicht, wo wir Stühle und Computer bestellen sollten. Es gab keine Datenbanken oder Gelbe Seiten. Ferner war es unmöglich zu erfahren, wie viele Kosovaren aus der Schweiz oder Deutschland wieder zurückgekehrt waren», erinnert sich Drenusha Shala.
Die Diaspora ermutigen
Nach Ansicht von Bashkim Iseni macht die Schweiz – eines der wichtigsten Geberländer des Kosovos – alles, was möglich ist, um seinem Land zu helfen. Er richtet seinen Finger jedoch auf die Behörden von Pristina, in seinen Augen die Schuldigen, die nicht genug machen, um das Potenzial der Diaspora zu nutzen. Nicht im Sinne von Abgaben, sondern beim Wissenstransfer.
«Es fehlt der politische Wille, die Diaspora zu ermutigen, sie ist wie ein ungehobener Schatz. Für die Entwicklung des Kosovo muss sie vom Staat als oberste Priorität behandelt werden», unterstreicht er. «Es braucht konkrete Vorschläge, Investitionen müssen gefördert und garantiert werden, beispielsweise zum Bau von Bürogebäuden», insistiert er. «Der Kosovo ist ein isoliertes Land und die Diaspora kann diese Insolation durchbrechen.»
(Übertragen aus dem Italienischen von Christine Fuhrer)
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