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Im Stadion mit Peter Bichsel

Marina Lutz

Ich bin, was für eine segensreiche Jugend, mit den Geschichten von Peter Bichsel aufgewachsen. Diesen kleinen, scheinbar alltäglichen Erzählungen, klein und doch voller grosser Poesie. Am liebsten mag ich diejenigen Geschichten von Bichsel, die in der Beiz spielen. Der Schriftsteller schildert uns diese als einen Ort des Austauschs, des gemütlichen Beisammensitzens aller Klassen und Schichten, bei Wein und Bier. Hier wird, wenn man Bichsel glauben darf, gestritten und debattiert. Hier werden die kleinen und grossen, kommunalen wie nationalen politischen Fragen verhandelt.

Die Beiz, wie sie Bichsel uns schildert, habe ich mir immer wie eine Agora der direkten Demokratie vorgestellt (im antiken Griechenland der zentrale Fest-, Versammlungs- und Marktplatz einer Stadt, die Red.)

Und wenn auch etwas nach dem grossen Autor geboren, so habe auch ich noch Erinnerungen an die Beiz. Aufgewachsen in einem kleinen katholischen Dorf in Graubünden, hat sich hier jeden Sonntag nach der Kirche, das ganze Dorf versammelt. Ich habe mich da immer gefühlt wie auf einer Bühne, auf der gerade eine von Bichsels Kurzgeschichten aufgeführt wird.

Kindheitserinnerungen. Heute ist die Beiz tot. Heute gibt es die Szenenbars. Jede Subgruppe der Subgruppe hat heute ihren eigenen Treffpunkt. Es gibt die Bars der Hipster, die der Banker, diejenigen der Arbeiter. Aber keine Beiz mehr, in der sich alle treffen. Die Hippster, die Banker und die Arbeiter.

Heute bleibt man unter seinesgleichen. Unsere Gesellschaft ist segregiert. Wir wohnen, arbeiten, wir leben unter unseresgleichen. Wir bewegen uns unter lauter Menschen, die sich gleich kleiden wie wir, gleiche Bildung genossen haben, ja die gleich denken wie wir. Wir sind eine «gated Community» geworden.

Fast zumindest. Denn es gibt noch einen Ort, einen letzten, der alle Klassen versammelt. Unabhängig von Bildungsstand, sozialer Schicht, politischer Ansicht. Es gibt einen Ort, der noch heute so ist, wie früher die Beiz.

Dieser letzte Ort, es ist das Fussballstadion. Hier sind sie alle. Die Politiker. Die Wirtschaftsbosse. Die Masse der Angestellten und Arbeiter. Die Arbeitslosen. Die Pensionäre. Die Jugendlichen.

Und hier sind sie alle gleich. One man, one game.

Der Fussball vermittelt ein schichtenübergreifendes Erlebnis. Eine Vielzahl verbindender, identitäts- und damit sinnstiftender Erinnerungsmomente werden hier, im Stadion, geschaffen. Das Spiel Schweiz gegen Albanien beispielsweise wird in das kollektive Gedächtnis des Landes eingehen.

Im Stadion verstehen wir, die Zuschauer, uns als gefühlte Einheit. Als «imagined Community».

Der Fussball ist politisch. Und vermittelt darüber hinaus direktdemokratische Werte wie Fairness und Solidarität.

Und noch etwas: der Fussball, er lehrt uns zu verlieren. Vielleicht die wichtigste Tugend im Leben. Und nach dem Spiel den Gewinnern die Hand reichen. Selbst wenn es nicht immer leicht fällt. Wie es uns die Engländer gerade demonstrieren. Denn noch schlimmer als die Niederlage gegen die Isländer ist das, was die jeweils andere Hälfte – je nach Perspektive – an der Urne entschieden hat.

Das Stadion ist heute noch ein Ort der klassenübergreifenden Begegnung, des Austausches. Es stiftet einen gemeinsam geteilten Sinn. Ein gemeinsames Koordinatensystem an Werten. Zumindest heute noch.

Denn die enthemmte Kommerzialisierung des Fussballs lässt befürchten, dass das Stadion schon bald das gleiche Schicksal wie die Beiz ereilen wird. Dass auch das Stadion plötzlich Menschen trennt statt zu verbinden.

Werden dereinst also die Kinder in diesem Land vielleicht mit Kurzgeschichten aufwachsen, die nicht mehr die Beiz, sondern das Stadion nostalgisch verklären?

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