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Die Entwicklung der Schweizer Identität von 1964-2014

Schweizerinnen und Schweizer befürworten unterstützende Massnahmen für ältere und behinderte Menschen, aber nicht für moderne Familien, weshalb man vom Begriff "sozial bewusster Konservatismus" redet, erklärt Soziologe René Levy. Keystone

Sind Sie ein guter Bürger, obschon Sie die Nationalhymne nicht singen können oder keinen Militärdienst geleistet haben? Zwei Soziologen entschlüsseln eine Umfrage zu schweizerischen Wahrzeichen und halten der Bevölkerung einen Spiegel vor.

Fünfzig Jahre nach der kontrovers diskutierten Gulliver-Befragung während der Landesaustellung 1964 in Lausanne hat eine Gruppe von Künstlern, Historikern und Soziologen das Jubiläum mit einem ähnlichen Akt der Selbstreflexion markiert.

Ihre Umfrage umfasst 25 Fragen zu verschiedenen Themen. Das Ziel ist das gleiche: Wie vor 50 Jahren wollten sie die Befindlichkeit der Schweizerinnen und Schweizer erforschen und nach gemeinsamen Werten suchen.

Was also macht einen guten Schweizer Bürger aus? Die Resultate zeigen es deutlich: Die Vorstellungen darüber haben sich in den letzten 50 Jahren gelockert.

Wie die Grafik zeigt, gilt auch noch als guter Schweizer Bürger, wer nur eine Sprache spricht, eingebürgert ist, die Nationalhymne nicht kennt, keinen Militärdienst geleistet hat oder erst nach 9 Uhr aufsteht (die berühmte Frage von 1964…).

Doch die meisten Befragten (64%) ziehen die Grenze dort, wenn jemand nie wählen oder Abstimmen geht (36%) oder von staatlicher Hilfe lebt (56,2%).

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«Wir sehen eine deutliche Zunahme bei der Ablehnung eines ‹bürgerlichen Konformismus›, der regelrecht zerpflückt wurde», sagt René Levy, Honorarprofessor für Soziologie an der Universität Lausanne.

«Es gibt eine entspanntere Haltung gegenüber traditionellen Schweizer Werten und gleichzeitig die Neigung zu einer hohen Bewertung der Arbeit und ein grosses Misstrauen gegenüber internationalen Finanzinstitutionen wie dem World Economic Forum (WEF) und der Grossbank UBS. Das Vertrauen in den Schweizer Franken ist aber nach wie vor hoch», sagt sein Lausanner Kollege, Soziologieprofessor Olivier Moeschler.

«Sollte ein Arbeitstag weniger als acht Stunden haben? Die Mehrheit ist nicht dieser Meinung. Das heisst: Sie können nach 9 Uhr aufstehen und ein guter Schweizer sein, aber Sie müssen mindestens acht Stunden lang arbeiten.»

Der Grossteil der Befragten gab an, Lehrer oder Künstler sei ihr Traumberuf. Die Ablehnung des globalen Finanzwesen äussert sich auch darin, dass 56% nicht Börsenmakler und lediglich 45% nicht Müllmann werden möchten.

Rund 64% wären einverstanden, höhere Steuern zu bezahlen, wenn das Geld für die Pflege älterer oder behinderter Menschen verwendet würde. Eine Mehrheit jedoch lehnte es ab, mehr Steuergelder für die Entwicklungshilfe oder die Integration von Ausländern auszugeben.

«Wir befürworten unterstützende Massnahmen für ältere und behinderte Menschen, aber nicht für moderne Familien, weshalb man vom Begriff ’sozial bewusster Konservatismus› redet», so Levy.

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Die Haltung gegenüber Ausländern erscheint komplex und widersprüchlich. Rund die Hälfte der Befragten gaben an, ein Teil ihrer Grosseltern sei ausländischer Herkunft. Bei 23% stammen alle Grosseltern aus dem Ausland. Eine Mehrheit der Schweizer mit ausländischen Wurzeln ist der Meinung, Ausländer trügen zum Erfolg des Landes bei, doch 75% sprachen sich gegen ein Asylzentrum in ihrer Gemeinde aus.

Der Islam leidet unter einem negativen Image. Rund 85% der Befragten sagten, das sei eine Religion, die Frauen unterdrücke . 64% sagten, der Koran sei weniger tolerant als die Bibel und für lediglich 21% ist der Islam kompatibel mit der Demokratie.

«Das ist nicht neu. Es gibt einer Art instinktiver Ablehnung von Immigranten und eine Art von Rückzug auf unsere Werte. Das ist ein altes Phänomen. Die Idee der ‹durch die Ausländer verursachten Überbevölkerung› stammt aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts und kommt immer wieder an die Oberfläche. Wir haben es nicht geschafft, einer Mehrheit der Bevölkerung eine positive Interpretation der Migration zu vermitteln. Sie wird regelmässig als Bedrohung angesehen», sagt Levy. «Verglichen mit 1964 scheint der Islam den Kommunismus ersetzt zu haben.»

Eine massive Mehrheit von 85% lehnen die Idee eines Beitritts zur Europäischen Union (EU) innerhalb der nächsten zehn Jahre ab. Für 22% der Befragten existiert der Röstigraben – die mentalen, kulturellen und politischen Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der Romandie – nicht. Die Mehrheit, die an die Existenz des Röstigrabens glaubt, ist der Meinung, dieser könne mit mehr Fremdsprachenunterricht in den Schulen (38,9%) und einer politischen Aufwertung der Romandie und der italienischen Schweiz (24,9%) beseitigt werden.

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Doch laut den Soziologen ist der Graben zwischen der italienischen und der restlichen Schweiz (Polentagraben) grösser, als der viel zitierte Röstigraben.

«Der Kanton Tessin hat eine härtere Haltung gegenüber Ausländern. Seine Verbundenheit mit dem Begriff der Swissness und traditionellen Schweizer Werten ist grösser. Das ist ein Problem, das von den Medien nicht wirklich thematisiert wird. Im Tessin wird es diskutiert. Der Kanton fühlt sich von Italien bedroht und vom Rest der Schweiz vernachlässigt», sagt Levy.

Welche weiteren Schlüsse kann man ziehen, wenn man die beiden Umfragen vergleicht, die 50 Jahre weit auseinander liegen? «Die Euphorie und der Optimismus der Vergangenheit wurden durch einen postmodernen Pessimismus ersetzt», so Levy.

«Das Wachstum und die teilweise Überhitzung in der Zeit zwischen 1945-1975 wurde durch Krisen, Null-Wachstum oder Perioden des Rückgangs ersetzt. Die Geburt der jungen Generation ist zu einer alternden Gesellschaft geworden. Die Hoffnung, dass alles noch erreicht werden kann – der Slogan der Expo ’64 war ‹glauben und hoffen›, – ist durch den Eindruck abgelöst worden, dass alles bereits gesagt und getan worden ist. Das Gefühl, dass es ‹in Zukunft besser wird›, wurde durch das Gefühl abgelöst, früher sei alles besser gewesen», sagt Levy.

Moeschler zieht eine verhaltenere Bilanz: «Im Grunde genommen geht es dem Land wirklich gut. Doch es scheint, dass je länger das Wohlergehen anhält, desto weniger Menschen mit andern teilen wollen.»

Die beiden Zeiträume und den jeweiligen Zeitgeist repräsentieren die unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Umfrage. So wurde die Veröffentlichung der Umfrage von 1964 durch die Regierung verboten. Heute sind Unmengen an Informationen und Daten frei zugänglich, un des gibt keine Zensur.

Sollte die Regierung über die Ergebnisse der Umfrage 2014 besorgt sein? «Ich denke, es gäbe da genügend Material», sagt Levy. «Wir sehen einen breiten Konsens in Fragen wie dem flexiblen Rentenalter oder der Beihilfe zum Suizid, aber auch eine grosse Skepsis gegenüber sozialen Ungleichheiten, namentlich gegen Steuergeschenke für die Reichen. Doch die Politik scheint nicht in Eile zu sein, etwas zu unternehmen.»

Trotz der düsteren Schlussfolgerungen sticht eine Aussage heraus: 76% der Schweizer erklären, sie seien heute glücklich.

Die Umfragen

In diesem Jahr feiert Lausanne das 50. Jubiläum der Landesausstellung von 1964 an den Ufern des Genfersees. In diesem Zusammenhang führten Kulturschaffende, Künstler, Historiker und Soziologen die Studie «Point de Suisse» durch.

Die Umfrage stellte 25 Fragen zu Haltungen, Hoffnungen und Ängsten. Sie wurde in allen Sprachregionen zwischen dem 18. Mai und 15. Juni durchgeführt. Befragt wurden 1000 Personen im Alter zwischen 16 und 74 Jahren.

Im Juli wurde zudem eine Online-Umfrage durchgeführt, an der sich mehr als 4800 Personen beteiligten.

1964 endete eine ähnliche Umfrage namens «Gulliver» in Kontroversen. Die Regierung taxierte die Ergebnisse zu Fragen wie Abtreibung, Verteidigung und Wehrbereitschaft als zu problematisch und liess die Ergebnisse verschrotten.

Ein Teilergebnis der Umfrage (134’255 Fragebogen) kann Online abgerufen werden. Eine Vorbefragung von «Gulliver» wurde später in einem Buch veröffentlicht. Eines der wichtigsten Ergebnisse war, dass die Schweiz als eines der wohlhabendsten Länder in Europa die höchsten Scheidungs- und Suizidraten hatte.

(Übertragen aus dem Englischen: Andreas Keiser)

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