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Die Erstbesteigung, an die niemand glaubte

Die Jungfrau in einem Kupferstich von 1813. akg images

Zwei gutbetuchte Brüder, die ein paar Gämsjäger anheuern: So begann, was 1811 in der Erstbesteigung der Jungfrau gipfelte. Der Erfolg war der Startschuss zur touristischen Erschliessung des Berner Oberlandes und der Alpen.

Am 3. August 1811 standen Johann Rudolf und Hieronymus Meyer, Söhne eines wohlhabenden Textilfabrikanten aus dem Kanton Aargau, als erste Menschen auf dem Gipfel der Jungfrau.

Die 4158 Meter hohe Riesin aus Fels und Eis bildet mit den benachbarten Gipfeln das heute weltberühmte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau, das im eingeläuteten Zeitalter des Tourismus zum Markenzeichen des Berner Oberlandes wurden.

Die Idee war kühn, wenn nicht verrückt, denn das Bergsteigen stand damals erst in seinen Anfängen, die Blütezeit des Alpinismus sollte erst ein halbes Jahrhundert später eingeläutet werden.

Die Brüder Meyer gingen davon aus, dass der Aufstieg auf der Südflanke am besten zu bewerkstelligen sei. Dies bedeutete einen langen und abenteuerlichen Anmarsch über die Pässe Brünig und Grimsel ins Rhonetal, weiter über Aletsch-, Oberaletschgletscher und Beichpass ins Lötschental und von dort aus schliesslich über die Lötschenlücke ins Jungfrau-Aletschgebiet. 

Den Entdeckern war nicht bewusst, dass von der einheimischen Oberwalliser Bevölkerung noch niemand je einen Blick auf die Jungfrau geworfen hatte: Die Sicht ist verdeckt durch Bergketten, die den Aletschgletscher flankieren, die längste Eiszunge Europas.

Als Führer heuerten die Meyer-Brüder zwei Fiescher an, die Älpler und Gemsjäger Joseph Bortis und Alois Volker.

«Auch die beiden hatten die Jungfrau noch nie zuvor gesehen, was das Vorhaben zur grossen Herausforderung machte», sagt Kilian Volker, ein direkter Nachfahre von Alois, gegenüber swissinfo.ch. Die beiden hätten wegen des Verdiensts eingewilligt, Erfahrung als Berggänger hätten sie nicht gehabt.

Bergführer-Dynastien

Kilian hat seinen ganzes bisheriges Leben in Fiesch verbracht. Die Bergführer-Tradition in der Familie Volker führt heute ein Neffe von Kilian fort.

Die beiden Meyer-Brüder hatten die Passion für die Schweiz von ihrem Vater Johann Rudolf geerbt. Dieser finanzierte, nachdem er es mit seiner Seidenbandfabrik zu Reichtum gebracht hatte, die ersten topographischen Landkarten der Schweiz.

Die Blätter des so genannten Meyer-Weiss-Atlas deckten das ganze Gebiet ab und stützten sich auf eine geographische Erfassung der Landschaft. Vater Meyer war auch in Pionier in der Reliefdarstellung.

Der Meyer-Weiss-Atlas diente den Brüdern nicht nur zur Planung ihres Anmarsches, sondern auch zur Bestimmung der Route auf den Gipfel der Jungfrau. Doch Details der vergletscherten, hochalpinen Landschaft zeigten die Karten noch keine.

«Wir stiessen über Eis und Schneemassen voran, die von der Jungfrau herunter hingen», notierten die Brüder in ihr Tourenjournal. «Was wir als glattes Schneefeld angesehen hatten, erwies sich als optische Täuschung: Plötzlich sahen wir unter unseren Schuhen einen Abbruch von 12 bis 15 Metern, nur mit Mühe konnten wir die Situation meistern.»

Am höchsten Punkt

Unter der Führung von Volker und Bortis sowie mit Hilfe einiger Träger erreichten die Gebrüder Meyer schliesslich den Gipfel. «Nachdem wir die schwierigste Stufe überwunden hatten, öffnete sich der Weg über eine Schneeflanke, und nach ein paar Schritten erreichten wir den höchsten Punkt des Jungfraumassivs. Es war genau nach zwei Uhr nachmittags.»

Nachdem die Seilschaft heil ins Tal zurückgekehrt war, folgte aber die grosse Ernüchterung: Niemand glaubte ihnen, dass sie tatsächlich zuoberst auf der Jungfrau gestanden waren.

«Ein Jahr später wiederholte ein Sohn von einem der Meyer-Brüder die Leistung, um den Gipfelerfolg zu beweisen. Dabei gelang der Gruppe gleich noch die Erstbesteigung des Finsteraarhorns», berichtet Peter Brunner. Wiederum dabei waren Joseph Bortis und Alois Volker, diesmal als «erfahrene» Führer.

Brunner würdigte die Erstbesteigung der Jungfrau vor 200 Jahren in einem Buch. «Es dauerte 30 Jahre, bis die Menschen den Gipfelerfolg geglaubt haben», sagt der Autor.

Im Buch zitiert Brunner einerseits aus den Aufzeichnungen der Meyer-Brüder, rollt aber auch bemerkenswerte Besteigungen der Jungfrau der letzten zwei Jahrhunderte auf.

«Leichter» Gipfel

Heute ist die Jungfrau einer der leichtesten Viertausender der Alpen. Möglich macht dies die Jungfraubahn, die mit einem Tunnel die Eigernordwand durchsticht und erst auf dem Jungfraujoch endet, nur vierhundert Höhenmeter unterhalb des Gipfels.

In seiner 35-jährigen Laufbahn hat Kilian Volker rund 300 Menschen auf die Jungfrau geführt, so viele, wie im Schnitt pro Jahr den Gipfel erreichen.

«Normalerweise ist der Aufstieg nicht so schwer, aber die Jungfrau sollte nicht der erste Viertausender sein», sagt sein Kollege Richard Bortis, Nachfahre von Joseph Bortis und wie Kilian Volker ebenfalls Bergführer in Fiesch. Voraussetzung sei eine gewisse Erfahrung, mit Steigeisen im Fels zu klettern, so Bortis.

Eines hat sich aber laut Buchautor Peter Brunner nicht gewandelt: «Die Jungfrau ist der vollkommenste Berg. Viele Berge leuchten ins Tal hinaus, aber nur die Jungfrau strahlt.»

Die Bergregion um die Jungfrau herum benutzt den Namen als Marke im Tourismus-Wettbewerb.

Auch die Jungfraubahnen bedienen sich des Namens des Berges. Diese betreiben die meisten der Ski- und Sessellifte in der Skiregion und fahren bis zum Jungfraujoch hinauf.

Die Bahn aufs «Top of Europe» (unter diesem Namen wird das Jungfraujoch vermarktet) war 1912, vor fast 100 Jahren, eröffnet worden.

2010 fuhren 672’000 Personen auf den 3454 Meter hohen Aussichtspunkt.

Die Jungfrau wurde weltweit noch bekannter, als sie 2001 mit dem Gebiet Jungfrau-Aletsch-Bietschhorn von der Unesco ins Welterbe aufgenommen wurde.

Die Jungfrau ist ein beliebter Gipfel für Leute, die einen Viertausender erklimmen wollen, der leicht zugänglich ist.

Hunderte pro Jahr machen den Aufstieg. Die meisten nehmen den Zug aufs Jungfraujoch und übernachten in einer nahen Berghütte des Alpenclubs, bevor sie den Aufstieg auf den 4158 Meter hohen Berg in Angriff nehmen.

Der Aufstieg ist aber nicht ohne Gefahren: Neuschnee ist in dieser Höhe häufig, sogar im Hochsommer, was die Lawinengefahr erhöht.

2007 kamen sechs Rekruten ums Leben, als sie von einer Lawine 1000 Meter in die Tiefe gerissen wurden. Sechs weitere Rekruten und zwei Bergführer blieben unverletzt.

(Übertragung aus dem Englischen: Renat Kuenzi)

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