«Die Gesellschaft muss gewisse Risiken eingehen»
Beim Strafvollzug geht es laut Gesetz nicht um Vergeltung, sondern um Resozialisierung der Gefangenen. Gleichzeitig ist dem Schutz der Allgemeinheit Rechnung zu tragen. "Dieser Widerspruch ist eine grosse Herausforderung", sagt der Dokumentarfilmer Dieter Fahrer.
Dieter Fahrer hat in der geschlossenen Strafanstalt Thorberg im Kanton Bern über Monate einen Dokumentarfilm über Häftlinge gedreht und den Alltag hinter Gittern kennengelernt. «Durch die vielen Einblicke, die ich hatte, bin ich so etwas wie ein Sprecher für Gefängnis-Insassen geworden, denn sie haben keine Lobby.»
swissinfo.ch: Wie wird ein Inhaftierter darauf vorbereitet, sich nach der Entlassung wieder in die Gesellschaft zu integrieren und straffrei zu leben?
Dieter Fahrer: Die Frage der Wiedereingliederung ist sehr komplex: Wie wollen wir einen Menschen auf die Entlassung vorbereiten, wenn er nachher ausgeschafft wird? In den Kosovo oder nach Côte d’Ivoire oder irgendwo sonst auf der Welt? In solchen Fällen ist es recht illusorisch, von Resozialisierung zu sprechen.
swissinfo.ch: Nicht alle Straftäter werden ausgeschafft. Wie steht es denn mit der Vorbereitung auf ein Leben in der Schweiz?
D.F.: Die Leute werden meist nicht direkt aus dem geschlossenen Vollzug entlassen, sondern kommen nach gewissen Vollzugslockerungen in den offenen Vollzug, wo sie schrittweise auf ein Leben in Freiheit vorbereitet werden. Oft gibt es eine bedingte Entlassung, die von Bewährungshelfern begleitet wird.
Das Problem ist, dass man – auch unter Druck der Medien – keine Risiken eingehen will. Es geht enorm lang, bis Vollzugslockerungen bewilligt werden, weil die Gesellschaft Angst hat.
Vertrauen schenken ist ein ganz wesentlicher Punkt. In unserer Gesellschaft dominiert aber die Vorstellung, die Strafe müsse sein, damit der Mensch leidet, schliesslich hat er ja Schlimmes getan.
Zahlen 2012 (2011)
Anzahl Institutionen des Freiheitsentzugs: 109 (111)
Anzahl Haftplätze 6978 (6869)
Belegungsrate: 94,6% (88,3)
Gesamter Insassenbestand: 6599 (6065)
Anteil Frauen: 4,9% (5,3%)
Anteil Ausländer: 73,8% (71,4)
Anteil Minderjähriger: 0,8% (0,5%)
swissinfo.ch: Auf dem Thorberg sind Sie Männern begegnet, die nicht gerade Sympathieträger sind. Dass sich die Gesellschaft vor schweren Gewalttätern schützen will, ist nachvollziehbar. Dennoch sollen diese Menschen wieder in die Gesellschaft integriert werden. Kann das funktionieren?
D.F.: Die Gesellschaft hat ein Anrecht auf Schutz. Und Straftäter sollten, so steht es im schweizerischen Strafgesetzbuch, wieder eingegliedert werden. Dieser Widerspruch ist die grosse Herausforderung und verlangt von der Gesellschaft, gewisse Risiken einzugehen. Wir respektieren Restrisiken in allen Bereichen, im Verkehr, bei den Atomkraftwerken… Im Bereich des Strafvollzugs sind wir jedoch nicht dazu bereit.
Klar ist es schwierig, denn wenn einer nach seiner Freilassung wieder eine schwere Straftat begeht, ist es eine grosse Katastrophe. Aber ein Schutz für die Gesellschaft entsteht nachhaltig nur, wenn diese Leute eine Chance bekommen, denn irgendwann kommen sie ja raus. Und wenn sie keine Perspektive haben, ist die Gefahr riesig, dass sie rückfällig werden.
swissinfo.ch: Wie erreicht man den grösstmöglichen Schutz der Allgemeinheit vor rückfälligen Verbrechern?
D.F.: Ein wesentlicher Punkt ist eine realistische berufliche Perspektive. Und dabei sollte man etwas innovativer sein. Es macht keinen Sinn, da oben auf dem Thorberg Glückwunschkarten in Briefumschläge zu packen und so die Zeit totzuschlagen.
Sinnvoller wäre es, Leute zu Automechanikern auszubilden, das kann man auch im Kosovo oder in Nigeria brauchen. Oder man könnte im Gefängnis Fitnesstrainer ausbilden. Die Männer sind oft sehr fit. Sie würden sich dann nicht nur mit Muskeln auseinandersetzen, sondern auch mit Anatomie und Ernährungslehre.
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Männer hinter Mauern
swissinfo.ch: Fehlt in der heutigen Gesellschaft der Wille, schwere Verbrecher wieder einzugliedern?
D.F.: Unsere Gesellschaft ist auf Angst und Misstrauen ausgerichtet. Wenn einer nach so und so vielen Jahren Haft rauskommt, hat er seine Strafe verbüsst. Dann müssten wir eigentlich bereit sein, ihn aufzunehmen. Wenn er aber ewig weder Wohnung noch Arbeit findet, wird es schwierig.
Es werden auch immer mehr Straftäter verwahrt, zum Teil zu Recht. Denn es gibt Menschen, die sind nicht therapierbar, sie sind eine Gefahr für die Gesellschaft und müssen eingesperrt bleiben.
swissinfo.ch: Viele der Thorberg-Insassen haben anderen Menschen grosses Leid zugefügt. Wie wichtig ist die Auseinandersetzung mit der begangenen Tat?
D.F.: Die Deliktarbeit ist sicher elementar und wird im Strafvollzug in der Regel auch gemacht. Natürlich ist es wichtig zu erkennen, was geschehen ist und zur Tat geführt hat.
Deliktarbeit ist aber auch extrem schwierig. Viele Verbrechen sind hochkomplex, oft gekoppelt an Sucht. Wie will man im Strafvollzug überprüfen, ob ein Mensch freiheitsfähig ist, wenn Suchtkomponenten hineinspielen? Denn auf dem Thorberg hat es kein Spiel-Casino. Drogen gibt es zwar, aber nicht in rauen Mengen wie draussen. Herauszufinden, ob ein Mensch in Freiheit wieder mit all dem umgehen kann, ist eigentlich eine Illusion.
Der Dokumentarfilmer Dieter Fahrer, Jahrgang 1958, hat 3 Jahre an seinem Film «Thorberg» gearbeitet und über ein halbes Jahr in der Strafanstalt Thorberg im Kanton Bern gedreht, wo 180 Männer aus über 40 Nationen inhaftiert sind.
Der Film porträtiert 7 der im geschlossenen Vollzug lebenden Insassen aus 7 Ländern. Premiere war im September 2012, ab dem 28. März 2013 läuft der Dokumentarfilm auch in der Romandie.
«Thorberg» wurde an der 36. Duisburger Filmwoche mit dem 3sat-Preis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm ausgezeichnet. An den Solothurner Filmtagen 2012 war er für den Prix de Soleure nominiert.
swissinfo.ch: Gibt es überhaupt einen sinnvollen Strafvollzug?
D.F.: Hans Zoss, der frühere Direktor des Thorbergs, hat in einem Interview kurz vor seiner Pensionierung gesagt: «Strafe bringt nichts.» Diese Ansicht teile ich. Stattdessen müssten Erkenntnisprozesse ausgelöst werden, die zu Verantwortung führen, für das, was man getan hat. Ändern kann man es nicht mehr.
swissinfo.ch: Welche Verbesserungen sind im Strafvollzug nötig?
D.F.: Im Thorberg haben die Männer nur 5 Stunden Besuchszeit im Monat. Es fehlt auch ein so genanntes Beziehungszimmer für Insassen, die eine Partnerschaft oder Familie haben.
Der Besuch findet in einem Raum statt, der die ganze Zeit überwacht ist und in dem auch andere Leute sitzen. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, eine Beziehung über Jahre zu erhalten.
Auch finde ich es absurd, den Zugang zum Internet generell zu verbieten. Das Internet bietet so viele Möglichkeiten, im Bildungs-, aber auch im Kommunikationsbereich. Wieso sollen jene, die Familien im Ausland haben, nicht über Skype kommunizieren können?
Die Menschen von der Umwelt abzukoppeln, ist eigentlich ein Widerspruch, wenn man sie wieder in die Gesellschaft zurückführen will. Der Fernseher ist das einzige Fenster zur Welt, das sie haben.
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