Die grosse Verschwendung
Rund ein Drittel aller produzierten Nahrungsmittel geht zwischen Feld und Konsum verloren. Auch in der Schweiz landen tonnenweise Esswaren im Müll. Ein riesiger Missstand, findet Umweltwissenschafter Claudio Beretta und fordert die Akteure zum Handeln auf.
Über die Lebensmittelverluste in der Schweiz liegen nur Schätzungen, aber keine verlässlichen Zahlen vor. Claudio Beretta, wissenschaftlicher Assistent an der ETH Zürich und Präsident des Vereins foodwaste.ch, hat für seine Masterarbeit 43 Betriebe der Nahrungsmittelindustrie unter die Lupe genommen und internationales Datenmaterial durchforstet.
Fazit: Wie in anderen industrialisierten Ländern gehen über die gesamte Lebensmittelkette rund 30% der verfügbaren Waren verloren. Fast die Hälfte davon wird von den Endkonsumenten weggeworfen.
swissinfo.ch: Vor 100 Jahren gaben Schweizer Haushalte 40-50% ihres Einkommens für Lebensmittel aus, heute gerade noch 6-8%. Sind die Nahrungsmittel schlicht zu billig und haben deshalb an Wertschätzung verloren?
Claudio Beretta: Das ist sicher ein wichtiger Grund. In Entwicklungsländern können sich die Leute gar nicht leisten, mehr einzukaufen als sie tatsächlich brauchen.
Darüber, ob die Lebensmittel zu billig sind, gehen die Meinungen auseinander.Es herrscht sicher ein gewisser Missstand, denn z.B. Umweltkosten, die bei der Nahrungsmittelproduktion entstehen, sind in den Preisen nicht inbegriffen, sonst würden die meisten Nahrungsmittel teurer.
Wenn man bedenkt, wie viele Ressourcen und Arbeit nötig sind, um Nahrungsmittel auf den Teller zu bringen, ist es erschreckend, was die Haushalte wegwerfen.
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swissinfo.ch: Nicht nur verdorbene Lebensmittel werden weggeworfen, sondern auch solche, die noch geniessbar sind. Wie kommt das?
C.B.: Tatsache ist, dass viele Konsumenten nicht richtig einschätzen können, ob Lebensmittel noch geniessbar sind oder nicht. Sie verlassen sich auf die angegebenen Ablaufdaten. Das ist problematisch, denn viele Lebensmittel sind auch nach Ablauf des Datums noch gut.
Viele Konsumenten verwechseln Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdatum: Das Mindesthaltbarkeitsdatum bezieht sich nur auf eine Garantie der optimalen Eigenschaften des Lebensmittels vom Hersteller aus, hat aber nichts damit zu tun, dass das Produkt nachher gesundheitlich problematisch wäre. Die Leute sollten wieder lernen, mehr den eigenen Sinnen zu vertrauen.
swissinfo.ch: Nicht nur im Handel und beim Konsumenten, auch beim Bauern entsteht Abfall. Er sortiert aus, was gemäss Grösse, Form, Gewicht, Färbung nicht der Norm entspricht. Entsprechen diese Qualitätsanforderungen den Bedürfnissen der Konsumenten?
C.B.: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Wurden die Waren zuerst aussortiert, so dass der Konsument gar nicht die Wahl hat, im Laden krumme Karotten zu kaufen? Oder liess der Kunde die krummen Karotten immer liegen, so dass es sich für den Detailhandel nicht mehr lohnte, sie in den Laden zu bringen?
Jedenfalls sind die hohen ästhetischen Anforderungen eine Folge unseres Wohlstandsniveaus. Leider haben viele Konsumenten verlernt, die tatsächliche Qualität der Lebensmittel zu beurteilen.
Fehlbeurteilungen von Lebensmitteln sind bedenklich, sowohl in Bezug auf die Effizienz der ganzen Nahrungsmittelkette und die anfallenden Verluste als auch auf die Tatsache, dass viele gesunde Nahrungsmittel gar nicht konsumiert werden.
Die hohen Qualitätsanforderungen sind sicher auch übertrieben, wenn man bedenkt, dass ein Siebtel der Weltbevölkerung permanent unterernährt ist.
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swissinfo.ch: Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen der Verschwendung in Industriestaaten und der Armut im Süden?
C.B.: Ich sehe zwei wichtige Zusammenhänge: Zwischen 40 und 50% der Lebensmittel, die wir in der Schweiz konsumieren, werden importiert, teils aus Ländern, wo Hungernot herrscht. Je grösser die Nachfrage bei uns, desto mehr fehlen diese Nahrungsmittel dort, wo die Lebensmittel knapp sind.
Den zweiten Zusammenhang sehe ich bei den Weltmarktpreisen: Je grösser die Nachfrage nach Lebensmitteln in den industriellen Staaten, desto mehr steigen die Preise. Das hat zur Folge, dass sich viele Leute nicht mehr leisten können, genügend Kalorien und Nährstoffe zu sich zu nehmen.
swissinfo.ch: Was muss geschehen, damit die produzierten Nahrungsmittel besser verteilt werden?
C.B.: Das Ursprungsproblem sehe ich in der völlig ungleichmässigen Verteilung der Kaufkraft. Reiche Leute verwenden Lebensmittel als Treibstoff fürs Auto, während arme Leute nicht einmal genügend Geld für die grundlegendsten Bedürfnisse haben.
Solange dieses Ungleichgewicht bei den finanziellen Mitteln herrscht, sollten Grundnahrungsmittel zu einem günstigen Preis auf dem Weltmarkt angeboten werden. Es darf keine Konkurrenz geben zwischen Lebensmitteln, die für Energiezwecke gebraucht werden, und solchen, die gegessen werden.
swissinfo.ch: Im Kampf gegen die Verschwendung von Lebensmitteln rufen UNO und EU zu gemeinsamem Handel auf. Welche Massnahmen können gegen Foodwaste ergriffen werden?
C.B.: Die Haupterkenntnis, die ich gewonnen habe, ist, dass alle Akteure in der Nahrungsmittelkette eine Rolle spielen und die grosse Verschwendung die Summe vieler kleiner Probleme ist. Es braucht viele und vielseitige Massnahmen. Man muss jeden einzelnen Akteur erreichen, dazu braucht es individuelle Kommunikationsmittel und viel Zeit.
Wichtig ist auch die Bildung: So sollte der Haushaltsunterricht mit Umweltfragenkombiniert werden, damit das Bewusstsein wächst, dass man bei kleinen Entscheiden im Alltag eine Hebelwirkung hat.
Die FAO rief dieses Jahr zu gemeinsamem Handeln auf, um die Nahrungsmittel-Sicherheit durch Abbau von Verschwendung zu reduzieren.
Auch das EU-Parlament fordert einen sorgfältigeren Umgang mit Lebensmitteln und bis 2025 eine Halbierung des Lebensmittelabfalls.
Nach Auskunft der UNO leiden weltweit schätzungsweise 870 Millionen Menschen an chronischer Unterernährung.
swissinfo.ch: Was erwarten Sie von der Politik?
C.B.: Sie kann Rahmenbedingungen schaffen, gerade bei der Bildung. Sie bestimmt über die Weiterverwertung von Lebensmitteln, die nicht von Menschen konsumiert werden.
Wichtig ist, dass diese Richtlinien nach wissenschaftlichen Kriterien ausgearbeitet werden. Das gilt auch für die Mindesthaltbarkeits- und Verbrauchsdaten. Sie sollten einheitlich geregelt sein und weder die Lebensmittelsicherheit gefährden noch eine unnötige Verschwendung provozieren durch unverhältnismässige Vorsicht.
Zentral ist zudem die Sensibilisierung der Konsumenten, denn am Schluss sind sie die Akteure. welche die Wahl haben, was sie kaufen und was nicht.
Nach Angaben der FAO (UNO-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft) werden pro Jahr 30% der produzierten Nahrungsmittel weggeworfen oder verderben. Das sind 1,3 Milliarden Tonnen, die umsonst produziert werden.
In den EU-Ländern sollen gegen 90 Millionen Tonnen im Abfall landen, das sind rund 180 kg pro Kopf und Jahr. In der Schweiz werden die jährlichen Nahrungsmittelverluste auf 1-2 Mio. Tonnen geschätzt.
Gut 20 Prozent der Verluste entstehen in der Landwirtschaft (Ernteverluste, aussortierte Ware), etwa 40% bei Transport, Handel und Verarbeitung und rund 40% bei den Konsumenten.
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