«Die italienische Justiz konnte die Augen nicht verschliessen»
Nach dem Urteil im Berufungsverfahren um das italienische Eternit-Werk in Turin könnte die Aufarbeitung der Asbest-Vergangenheit bald auch in der Schweiz eine neue Entwicklung nehmen. swissinfo.ch hat mit dem Vize-Präsidenten des Schweizer Asbest-Opfervereins, Massimo Aliotta, gesprochen.
18 Jahre Gefängnis – zwei Jahre mehr als in erster Instanz. Dazu provisorische Schadenersatzzahlungen in der Höhe von 89 Millionen Euro: So lautet das Urteil des Appellationsgerichts von Turin im Prozess gegen den Schweizer Unternehmer Stephan Schmidheiny. Schmidheiny wurde am Montag dieser Woche erneut schuldig gesprochen, in den Asbestfabriken der ehemaligen Eternit S.p.A. von Genua vorsätzlich ein Umweltdesaster angerichtet zu haben.
Der Vize-Präsident des Schweizer Asbest-Opfervereins, Massimo Aliotta, ist über das Urteil nicht überrascht.
swissinfo.ch: Nach dem Verlesen des Urteils erklärte Staatsanwalt Raffaele Guariniello, dass seine Erwartungen übertroffen worden seien. Teilen Sie diese Einschätzung?
Massimo Aliotta: Ich ging davon aus, dass das Gericht die 16-jährige Gefängnisstrafe aus erster Instanz bestätigen würde. Ich dachte nicht, dass Stephan Schmidheiny zwei zusätzliche Jahre erhalten würde. Es liegt auf der Hand, dass die Verteidigung behauptet, es handle sich um ein unfaires Urteil. Sie werden in die Kassation gehen, und – falls nötig – auch vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg.
Ich selbst verfolge diesen Justizfall seit elf Jahren. Und mir war klar, dass die italienische Justiz angesichts von 3000 Opfern nicht einfach die Augen verschliessen konnte. Man konnte nicht so tun, als sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Über Jahre sind in diesen Fabriken unglaubliche Dinge passiert.
swissinfo.ch: Sind Sie zuversichtlich im Hinblick auf den Prozess vor dem Kassationsgericht?
M.A.: Da ich die Details der Urteilsbegründung nicht kenne, ist es noch zu früh, sich dazu zu äussern. Das schriftliche Urteil wird erst 90 Tage nach der mündlichen Urteilseröffnung vorliegen.
Das Kassationsgericht wird auch eine Reihe von Verfahrensfragen klären müssen. Beispielsweise die Frage, ob während eines Verfahrens die Anklagepunkte geändert werden können. Staatsanwalt Guariniello hat mit seinen Ermittlungen vor etlichen Jahren begonnen. Und im Rahmen des Verfahrens kamen immer neue Sachverhalte zu den Unterlassungen in den Fabriken an den Tag. Daher haben sich auch die Anklagepunkte geändert.
swissinfo.ch ist in der 1. Version des Artikels bei der Frage: Den Zivilparteien wurden provisorisch 89 Millionen Euro als Schadenersatz zuerkannt. Glauben Sie, dass Stephan Schmidheiny eines Tages wirklich den Geldbeutel wird zücken müssen? ein Fehler unterlaufen, für den wir uns entschuldigen.
swissinfo.ch: Den Zivilparteien wurden provisorisch 89 Millionen Euro als Schadenersatz zuerkannt. Glauben Sie, dass Stephan Schmidheiny eines Tages wirklich den Geldbeutel wird zücken müssen?
M.A.: Herr Schmidheiny hat immer erklärt, dass er die Opfer entschädigen wolle. Doch bis heute hat er lediglich ein Teilentschädigung zugestimmt. Während des Prozesses schlug er eine Entschädigung bis 60’000 Euro pro Kopf vor. Einige der Opfer haben diesen Vorschlag akzeptiert.
Nach dem ergangenen Urteil muss man schauen, ob Verhandlungen für einen vollständigen Schadenersatz geführt werden können, oder ob die Anwälte der Privatkläger eine Urteilsvollstreckung in der Schweiz beantragen müssen, wo Schmidheiny einen Teil seines Vermögens hält. Das wird jedoch sehr schwierig werden.
swissinfo.ch: Schon bald wird mit einer neuen Front im Asbest-Verfahren gerechnet. Bei der Staatsanwaltschaft läuft ein weiteres Ermittlungsverfahren zu Asbest-Opfern, bei dem die Anklage auf fahrlässige Tötung lauten könnte. Wo steht dieses Verfahren? Und könnte es auch Auswirkungen auf die Schweiz haben?
M.A.: Wir wissen überhaupt nicht, wann dieses Ermittlungsverfahren beendet sein wird. In Italien gibt es ein absolutes Ermittlungsgeheimnis. Erst nach Abschluss der Ermittlungen durch den Staatsanwalt können die Akten eingesehen werden.
Bei diesen Ermittlungen geht es auf alle Fälle um Asbest-Opfer in Italien, die erst nach Abschluss der ersten Ermittlung, die zum Turiner Prozess führte, erfasst wurden.
Staatsanwalt Guariniello überlegt auch, ob er ein Verfahren in Zusammenhang mit den 200 Italienern einleiten soll, die in den Schweizer Eternit-Werken von Niederurnen (Glarus) und Payerne (Waadt) tätig waren und nach Italien zurückgekehrt sind, wo sie verstarben. Dieses Verfahren könnte nicht nur Stephan Schmidheiny betreffen, sondern auch die Kader der damaligen Schweizer Eternit-Fabriken und die Schweizer Unfallversicherungsanstalt Suva.
Der Sprecher des Schweizer Unternehmers Stephan Schmidheiny, Peter Schürmann, sowie Schmidheinys Verteidiger Astolfo Di Amato bezeichnen das Urteil des Turiner Appellationsgerichts vom 3. Juni 2013 in einer Medienmitteilung als «skandalös». Sie kündigen an, dieses Urteil an die nächste Instanz zu ziehen.
«Auch das zweitinstanzliche Verfahren in Turin muss als politisch motivierter, unfairer Prozess mit massiver medialer Vorverurteilung bezeichnet werden», heisst es in dieser Mitteilung. «In einer beispiellosen, über Jahre geführten Kampagne hatten die Staatsanwaltschaft, organisierte Opfervertreter, Gewerkschaftsvertreter und lokale Medien die Verantwortung für die Asbest-Tragödie auf Stephan Schmidheiny und den kürzlich verstorbenen Mitangeklagten Louis de Cartier reduziert und deren Schuld von Anfang an, teilweise schon Jahre vor Beginn des Verfahrens, als erwiesen erachtet.»
Während des Prozesses hatte die Verteidigung stets gegen die These argumentiert, wonach für Schmidheiny der Profit wichtiger gewesen sei als die Sicherheit der Arbeit. Gemäss Astolfo Di Amato ist genau das Gegenteil wahr: «Die Schweizer Eternit-Gruppe hat damals in den italienischen Gesellschaften 75 Milliarden Lire verloren. Ein Grossteil wurde in Sicherheit investiert.»
Der Sprecher von Stephan Schmidheiny hält weiter fest: «Wie in der ersten Instanz wurden auch im zweitinstanzlichen Verfahren zahlreiche elementare Rechte der Angeklagten verletzt und materielle Einreden negiert. Besonders schwer wiegen die Vorverurteilungen, in denen Stephan Schmidheiny mit Hitler und seine Anstrengungen zur Arbeitsplatzsicherheit mit der Wannsee-Konferenz der Nazis verglichen wurde, an der die systematische Ermordung von 6 Millionen Menschen geplant worden ist. Einen solchen Vergleich kann man nur als besonders bösartige Zerstörung der Unschuldsvermutung interpretieren.»
In Bezug auf die Schadenersatzforderungen heisst es: «Im Wissen um die möglichen dramatischen Folgen von Asbesterkrankungen und die spezielle Situation in Italien hat Stephan Schmidheiny bereits 2005 – und damit lange vor dem Prozess in Turin – ein humanitär motiviertes Programm lanciert. Über die Becon AG wird von Asbesterkrankungen betroffenen Personen, die einen Bezug zu den italienischen Eternit-Werken haben, unbürokratisch eine Entschädigung auf der Basis internationaler Standards angeboten. Seit 2006 haben über 1500 Personen dieses von italienischen Medien als «Teufels-Offerte» bezeichnete Angebot angenommen. Inzwischen wurden Entschädigungen von über 50 Mio. Franken gesprochen.»
swissinfo: Inwiefern könnte die Suva auf der Anklagebank sitzen?
M.A.: Weil die Kontrollen von Asbest-Fabriken damals möglicherweise nicht ausreichend waren. In den Jahren 1950 bis 1970 hat die Suva nichts unternommen, um die Arbeiter in der Schweiz zu schützen. Deshalb fürchtet die Suva das Verfahren. Jahrelang hat sie sich dagegen gewehrt, dass die Unterlagen zu den italienischen Arbeitern in den Schweizer Werken an die Ermittler in Turin übermittelt werden. Doch das Bundesgericht hat 2005 bestätigt, dass die Überweisung dieser Dossiers legal ist.
swissinfo.ch: Könnte das Urteil von Turin dazu führen, dass in anderen Ländern Ermittlungen beschleunigt werden?
M.A.: Zurzeit sind noch Verfahren in Frankreich und in Belgien hängig. Statt von Beschleunigung würde ich eher von einem «juristischen Kick» sprechen. Die rechtliche Situation in diesen Ländern ist sehr unterschiedlich. Das Urteil von Turin könnte aber die dortigen Gerichte anstacheln, indem aufgezeigt wird, dass es Wege zu einer Verurteilung gibt.
In der Schweiz war dies nicht möglich. Die Strafanzeigen gegen die ehemaligen Kader der Eternit wurden vom Bundesgericht auf Grund der Verjährungsfrist eingestellt. Die Schweiz ist ein Sonderfall: Die strafrechtliche Verjährung beginnt 10 Jahre, nachdem ein Arbeiter erstmals Asbest eingeatmet hat. In allen anderen EU-Ländern beginnt die Verjährungsfrist zum Zeitpunkt der Erkrankung eines Arbeiters. Die Latenzzeit, das heisst der Zeitraum vom Beginn der Einwirkung bis zur Erkrankung, kann bei Asbest aber sehr lang sein. Daher ist die Schweizer Regelung absurd.
swissinfo.ch: Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte jedoch für eine Änderung dieser Bestimmung sorgen…
M.A.: … allerdings nicht in strafrechtlicher Hinsicht. Eine Änderung könnte höchstens zivilrechtlich oder in Bezug auf das Verwaltungsrecht etwas bewirken.
Der europäische Gerichtshof hat die Klage eines Asbest-Opfers gegen ABB und Suva angenommen, wonach die Suva gegen ihre Aufsichtspflicht verstossen habe.
2011 hatte das Bundesgericht entschieden, dass Asbestopfer, die erst nach einer Latenzzeit von mehr als 10 Jahren erkranken, keinen Schadenersatz vom ehemaligen Arbeitgeber verlangen können. Falls der Gerichtshof für Menschenrechte dieses Urteil umstösst und der klageführenden Opferfamilie Recht gibt, könnte dies zu einem echten Erdbeben führen. Alle Gesetze müssten geändert werden und rückwirkend könnten viele Ansprüche geltend gemacht werden. Die Signale, die wir aus Strassburg erhalten, sind positiv. Es scheint so, als ob wir diesen Fall gewinnen könnten.
Die Verzögerungen bei der Überstellung von Akten italienischer Arbeiter in den Werken Niederurnen und Payerne an die Ermittler in Turin begründet die Suva mit dem Datenschutz.
«Wir mussten abwarten, bis das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement grünes Licht zur Frage gegeben hatte, ob die Suva befugt sei, diese Daten nach Italien zu übermitteln.»
«In Zusammenarbeit mit der italienischen Inail (Pendant der Suva in Italien) wurden die italienischen Ärzte informiert, dass asbest-verseuchte Personen im Krankheitsfall und ohne irgendeine zeitliche Beschränkung ihre Rechte auf Leistungen nach dem Schweizer Unfallversicherungsgesetz geltend machen können.»
Die Suva weist zudem die Vorwürfe, wonach sie keine Massnahmen für die Sicherheit der Arbeiter getroffen hätte, als vollkommen unbegründet zurück. Ein allfälliges Verbot von Asbest sei nie in der Kompetenz der Suva gelegen. Dafür wäre das Bundesamt für Umwelt zuständig gewesen.
Mitte der 1970er-Jahre habe die Suva die eigenen Vorschriften verschärft, indem Grenzwerte herabgesetzt und Schutzmassnahmen erhöht wurden. Dies habe schliesslich dazu geführt, dass die Verwendung des besonders gesundheitsgefährdenden Spritzasbests in der Schweiz ausgesetzt wurde. Schliesslich sei Asbest sukzessive durch unschädliche Stoffe ersetzt worden, noch vor dem Verbot von 1990.
(Übersetzung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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