Aus dem Alltag eines Schweizer Heroinabhängigen
Die progressive Schweizer Drogenpolitik brachte nicht nur die offene Drogenszene zum Verschwinden, sondern rettete zahlreichen Süchtigen das Leben. Inzwischen sind Heroinabhängige aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Wie leben sie heute? Ein Buch gibt Einblick in den Alltag eines Drogensüchtigen.
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Die Schweiz – eine Pionierin für eine menschenwürdige Drogenpolitik
In den 1990er-Jahren geriet die Schweiz wegen schockierenden Bildern von der offenen Drogenszene in die internationalen Schlagzeilen. Das Elend war so gross, dass die Schweiz einen Tabubruch wagte und ab 1993 unter staatlichen Kontrolle Heroin an Süchtige abgab. Ziel war es, den Süchtigen ein stabiles Leben zu ermöglichen und damit Beschaffungskriminalität, Prostitution und Krankheitsübertragungen zu vermeiden.
Das Experiment gelang: Dank der progressiven Drogenpolitik der Schweiz verschwand die offene Drogenszene. Die staatlich kontrollierte Heroinabgabe rettete vielen Drogenabhängigen das Leben. Die Kehrseite der Medaille: Schwerstabhängige sind heute weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wie leben Drogenabhängige mit einer jahrelangen Sucht? Wie sieht ihr Alltag aus, ihre täglichen Sorgen und Freuden? Wie wirkt sich die Sucht auf Beziehungen aus?
Ein Buch gibt Antworten: Der Schweizer Schriftsteller Roland Reichen hat mit seinem drogenabhängigen Bruder Peter Reichen ein Buch geschrieben, in dem dieser aus seinem Alltag erzählt. Und der Fotograf Jonathan Liechti hielt Peters Leben bildlich fest. Im Folgenden publizieren wir einige Bilder und Auszüge aus dem Buch «Druffä. Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen» (gekürzt und leicht redigiert).
Geschichten aus dem Suchtalltag
«Am Morgen ist es also ganz schlimm. Fiebrig. Flau im Magen, dass es mir fast hochkommt. Die Knochen schmerzen. Ich schwitze Bäche – und gleichzeitig nadelt es mich, als ob ich nackt im Schnee steckte. (…) Schnell in die Kleider von gestern. (…) Draussen die erste Zigarette. (…) Im Bus gar nicht entspannt. Fingertrommeln. Wie der heute wieder kriecht! Ja, halt doch an jeder Ampel!»
«Dann endlich doch da. Die Treppe rauf, vor der Glastür den Finger auf den Fingerabdruck-Leser, in den kleinen Warteraum im nächsten Stock. Etwa zehn Leute vor einer Panzertür, an der Decke ein Flachbildschirm, mein Name, vom Fingerabdruck-Leser gemeldet, ganz unten.
Man kann stehen oder hocken. Ich wechsle ständig. Mein Name klettert langsam in der Liste auf dem Bildschirm nach oben. Erst nach gut 15 Minuten leuchtet er zuoberst im grünen Feld. Noch ein Weilchen, erst jetzt surrt die Panzertür. Ich rein. Während ich mir die Hände wasche, rufe ich dem Pflegepersonal hinter der Ausgabe zu; ‹150 Milligramm, in den Muskel. Und vielleicht gern auch noch ein Ponstan, weil ich spüre die Niere wieder.'»
«Mit der aufgezogenen Spritze am Platz. So, dass es die Pfleger sehen, muss ich das Ponstan schlucken. Dann desinfizieren. Die Spritze in den Oberschenkel. Langsam drücken.»
«Die Spritze rausziehen, Deckel drauf. Ich rufe: ‹Spritze!› Einer von der Pflege schaut, ruft: ‹Okay!› – Wurf in den Spritzencontainer. Sofort auf den nächsten Bus.»
«Alle zwei Wochen fahre ich zu meinen Eltern nach Spiez. Ich helfe ihnen ein bisschen im Haus und im Garten (…). Am Nachmittag gehe ich zum Beispiel mit Mami einkaufen.»
«Oder ich sitze mit Papi im Wohnzimmer, während Mami einkaufen geht. Mit Papi schaue ich vielleicht einen Tierfilm. Oder ich spiele ihm Musik von meinem Mobiltelefon vor. Oder wir schlafen einfach noch ein bisschen. Wenn Mami zurück ist, gibt es ein Zvieri [Brotzeit], aber dann muss ich auch schon wieder auf den Zug, für in die Abgab [Drogenabgabestelle].»
Daheim in der Wohngemeinschaft
«Seit mehr als einem Jahr habe ich keinen Kokain-Absturz mehr gehabt. Ich habe für eine Playstation gespart, und was von den wöchentlich dreissig Franken Soz-Geld [Geld vom Sozialamt] früher für Kokain draufging, das gebe ich jetzt für Games aus.»
«Ja, die Fotos, die sind jetzt also schon ein bisschen krass. Normalerweise schaut die Silvia, meine Betreuerin, also schon, dass es in meinem WG-Budeli nicht so ein Puff hat [dass im WG-Zimmer nicht so ein Chaos herrscht].»
«Bei mir war es ganz klar der Gruppendruck, warum ich draufgekommen bin [warum ich süchtig wurde]. Damals, Anfang der Neunzigerjahre, trafen wir Jungen in Spiez uns viel bei einer Turnhalle, weil es dort so Beton-Sitzreihen gab. Töffli frisieren, kiffen und Bier, das waren unsere Interessen – bis dann einmal einer Heroin mitgebracht hat aus Zürich. Fast die Hälfte der Clique stürzte innert Wochen auf das Eitsch ab. Blöderweise war ich in ein Mädchen aus dieser Hälfte verliebt. Am Anfang sagte ich schon noch: ‹Eh, das ist doch ein Seich, Nathlä, das Eitsch; mir langt emel das Kiffen für ein schönes Gefühl!› [Das Heroin ist doch Blödsinn, Nathalie, mir reicht das Kiffen für ein schönes Gefühl!] – Aber da sagte die Nathlä und sagten auch die anderen dann eben, ich solle es erst einmal probieren…»
«Ich kürzlich am Bahnhof am Mischeln [Betteln]. (…) ‹Grüessech, hättet Dir vielleicht ein kli Münz?› [Guten Tag, hätten Sie mir vielleicht ein wenig Kleingeld?] Ja, für was es denn sei, fragt eine junge Frau in einem roten Abendkleid auf Baseldeutsch. Sie wartet mit einer Kollegin auf den Bus; auch sie elegant, in einem mintgrünen Kleid; die beiden wollen wohl an einen Ball oder so etwas, denke ich.
‹Ich will Euch nicht anlügen›, komme ich zur Sache. ‹Ich sage es Euch geradeheraus: Es ist für Seich.› [Anm.: Seich bedeutet Urin, aber auch umgangssprachlich Blödsinn]
Die im roten Kleid, mit schönen Dauerwellen übrigens, schaut mich verständnislos an. Ja, da könne ich doch einfach zur SBB hinüber, die liessen mich mein Geschäft doch sicher gratis machen. (…)
‹Nein, Sie verstehen mich falsch›, muss ich fast ein bisschen lachen. ‹Ich meine, ich brauche das Geld für – für Scheissdreck, wenn Sie verstehen, was ich meine›, zwinkere ich so bedeutungsschwanger mit dem linken Aug.
Ja, auch das grosse Geschäft könne ich doch sicher dort drüben erledigen, schüttelt sie den Kopf.
Da werde ich dann doch etwas energischer. ‹Nei, nei, nei!›, rufe ich. ‹Wie soll ich sagen? Ich brauche das Geld für Blödsinn; für Dummheiten will ich es ausgeben!›
Da hat sie es dann gecheckt. Ah, für Dummheiten gebe es ein bisschen weniger, meinte sie ziemlich reserviert – und drückte mir aber immerhin noch einen Zweifränkler in die Hand.»
«Als meine Freundin starb, lag ich im Spital. Carol war nur gerade 37 geworden und hatte ein ziemlich schlimmes Leben gehabt: Mit 15 die alkoholkranke Mutter verloren, bald darauf auch den Vater. Seit Jahren war sie ein Sozialfall, drogensüchtig, HIV-positiv und machte den Wackel, wie man hierherum sagt, den Drogenstrich, auf dem sie mehrfach vergewaltigt wurde, einmal auch von einem Anwalt. (…) Zuletzt brauchte Carol fast tausend Franken am Tag für ihre Kokain-Abstürze. Ein Managerlohn. Sie starb nicht an einer Überdosis, sondern eigentlich daran, dass sie – Arme und Beine vernarbt – kaum noch einen Flecken am Körper fand, an dem sie sich das Kokain spritzen konnte. Sie legte sich in der Leiste eine sogenannte Fistel, ein Loch auf die Leistenvene hinab, das sie sich mit einer Spritze ins eigene Fleisch grub. Natürlich entzündete sich die Wunde rasch. Zwei, vielleicht drei Monate lang drückte Carol schwärzlichen Eiter aus dem rot-braunen, entzündeten Fleisch, manchmal auch Würmer aus geronnenem Blut. (…) Als ich sie am Abend des 9. Mai um zehn nach sieben anrief, muss sich ein Blutgerinnsel aus der Fistel gelöst haben, in ihre Lunge gespült worden sein. Sie sagte noch, ihr sei schwindlig und sie spüre den Schmerz im Bein wieder – dann nur noch viermal ein schweres, rasselndes Keuchen.»
«Sehr geehrter Herr Richter
Ich schreibe Ihnen wegen Ihrem Strafbefehl vom 16. Oktober, dass ich für fünf Tage in die Kiste [Gefängnis] muss. Ich bin an der eidgenössischen Abstimmung vom 13. Februar nicht im Stimmbüro City-West erschienen, wo ich als Wahlhelfer die Stimmausweise hätte kontrollieren sollen. Und ich habe auch die Busse über zweihundert Franken nicht bezahlt, die Sie mir deshalb im April geschickt haben.
Sie haben natürlich recht, Herr Richter, das waren nicht gute Taten von mir. Nur, das 2011 war bisher eben auch ein ziemlich schwieriges Jahr für mich. (…)
Trotzdem möchte ich Sie bitten, Herr Richter, ob Sie nicht vielleicht doch noch einmal überlegen könnten, ob ich meine Strafe nicht in der Werkstatt Job-Brügg abarbeiten kann. Ich war bisher eben noch nie im Loch [Gefängnis], und es macht mir auch Angst. In der Job-Brügg kennt man mich schon. Ich habe dort schon verschiedene Bussen abgeleistet, und man schätzt meine Arbeit.
Mit freundlichen Grüssen, Peter Reichen»
Jonathan Liechti (Fotograf), Megan Adé (Grafik), Peter Reichen (Porträtierter) und Roland Reichen (Co-Autor), «Druffä. Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen», Münster VerlagExterner Link 2019.
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