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Spurensuche nach der Herkunft unserer Krankheiten

Was kann uns eine alte ägyptische Mumie über heutige Krankheiten erzählen? Recht viel, sagen Wissenschaftler. Swiss Coffin Project/pmimage.ch

Was erzählt uns eine ägyptische Mumie oder ein Skelett aus dem 17. Jahrhundert aus Zürich über Krankheiten, die uns heute zu schaffen machen? Ziemlich viel, wenn man die Sache aus einem entwicklungsgeschichtlichen Blickwinkel betrachtet.

Es ist ein relativ neues Forschungsgebiet. Mit der Hilfe von Evolutionsbiologie, Archäologie und Immunologie wird in die Vergangenheit geschaut, um die Gegenwart besser zu verstehen und Lösungen für die Zukunft zu finden.

Zuvorderst dabei in diesem Forschungsfeld ist die Universität Zürich mit ihrem Institut für Evolutionäre Medizin (IEM)Externer Link. Besonders, wenn es um die Erforschung der Gesundheits-Geheimnisse unserer Vorfahren geht.

Kürzlich führte das Institut die erste Konferenz über evolutionäre MedizinExterner Link in Europa durch. Dabei wurde unter anderen der Fall eines Skeletts aus dem 17. Jahrhundert besprochen, das 2014 in Bauchlage im Klosterbezirk der ehemaligen Fraumünster-Abtei in Zürich gefunden wurde. Laut Daria Moser, Studentin der prähistorischen ArchäologieExterner Link an der Universität Zürich und beteiligt an der Untersuchung des Skeletts des etwa 30-jährigen Mannes, habe dieses beschädigte Gelenke und Zähne aufgewiesen.

Autoimmunkrankheit

«Alle diese Krankheitsbilder, die wir hier gesehen haben, brachten uns zum Schluss, dass der Mann vermutlich unter Gelenkentzündungen litt. Das ist eine Autoimmunkrankheit, das heisst, das Immunsystem greift dabei den eigenen Körper an», erklärt Moser.

«Wir wissen nicht wirklich, woher diese Krankheit kommt. Es gibt eine langanhaltende Diskussion darüber, und derzeit herrscht die These vor, dass sie aus Amerika stammt und nach Kolumbus zu uns kam. Wir fanden heraus, dass dies der älteste Fall von Gelenkrheumatismus in der alten Welt ist.»

Rheumatoide Arthritis ist eine chronische Erkrankung, die oft zu Schmerzen und Deformierungen führt und Bewegungsabläufe behindert. Bis zu einem Prozent der Weltbevölkerung sind davon betroffen. Allein in der Schweiz leben 70’000 Personen mit dieser KrankheitExterner Link.

Indem sie diesen frühen Fall von Gelenkrheuma untersuchen, erhoffen sich die Wissenschaftler, mehr über die Entwicklung der Krankheit zu erfahren. Dieses Wissen könnte für zukünftige Therapien hilfreich sein, sagt Moser. Und genau darum geht es in der evolutionären Medizin.

Entwicklungsgebiet

Laut Frank Rühli, Vorsteher des IEM, wendet das wachsende Forschungsgebiet die Prinzipien der Evolutionsbiologie in der Einschätzung medizinischer Probleme, der Gesundheit und von Krankheiten an. «Es ist grundsätzlich wie Randolph Nesse sagte, einer der Pioniere in diesem Feld: ‹Medizin ohne evolutionäre Medizin ist wie Ingenieurwissenschaft ohne Physik›.»

Dabei gehe es um ganz einfache Fragen wie: Warum haben wir Blut, warum bluten wir, und welche Faktoren unterstützen oder bremsen das Bluten des Körpers? Die evolutionäre Medizin untersucht auch Variationen bei Menschen und die Anpassung der Menschen. Solche Anpassungen können manchmal innerhalb von kurzer Zeit geschehen, erklärt Rühli.

«Ich sage meinen Studierenden immer, dass sie während der nächsten 50 Jahre Medizin praktizieren werden, und dass sich die Menschheit in diesen 50 Jahren tatsächlich verändern wird. Oft denken namentlich unerfahrene Studenten, dass alles wie in einem Lehrbuch und in Stein gemeisselt ist. Doch das ist nicht der Fall», sagt er.

«Wir beobachten Anpassungen bei Menschen, Veränderungen in Genpools, Bevölkerungswachstum, Migration. Dies alles sind Faktoren, die irgendwann den Genpool, die Morphologie, die Art und Weise, wie Menschen aussehen und agieren, verändern werden.» Schliesslich gebe es noch die Frage der Normalität, sagt Rühli. Die Menschen seien schlicht unterschiedlich; genetisch, morphologisch und metabolisch.

Was uns Mumien erzählen

Die Spezialität von Rühlis Institut aber ist die Erforschung von Mumien aus dem AltertumExterner Link. Diese geben mehr preis als Skelette, blieb ihr Gewebe doch durch die Einbalsamierung erhalten. Mit modernster Technologie wie Computertomografie und Röntgen werden die Mumien untersucht. Dies führt zu guten Resultaten, ohne dass die Mumien beschädigt werden.

Eine Überraschung dabei war, dass viele der untersuchten altägyptischen Mumien – etwa die Hälfte – starke Arteriosklerose aufwiesen, also eine Verdickung, Verkalkung und Verfettung der Arterien, die zu Herzinfarkten und anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen kann.

«Wir sind normalerweise der Meinung, dass Arterienverkalkung eine moderne Lifestyle-Erkrankung sei», sagt Rühli. Zu viel Fett werde als einer der Faktoren ins Spiel gebracht. «Doch das stimmt so nicht, weil wir eine grosse Menge von Fällen von Arteriosklerose bei Menschen aus dem Altertum haben. Das ist faszinierend, denn es zeigt grundsätzlich, dass auch die genetische Basis für diese Krankheit tatsächlich recht alt ist.»

Ötzi tritt auf

Mit der Technologie des Instituts können sogar jahrtausendealte Rätsel gelöst werden. So war Rühli beispielsweise daran beteiligt, mit Röntgenmaschinen die Todesursache des berühmten Eismannes «Ötzi»Externer Link herauszufinden. Die einmalig gut erhaltene Gletschermumie aus dem Neolithikum war 1991 in den Südtiroler Bergen gefunden worden. Der Mann war an einer Pfeilwunde in der Arterie seiner linken Schulter gestorben.

Frank Rühli bei seiner Untersuchung der Südtiroler Gletschermumie «Ötzi». courtesy Frank Rühli

Aus historischen Knochen und aus mumifiziertem Gewebe können auch DNA-Proben entnommen werden. So konnten Forscher herausfinden, ob alte Völker Laktose vertrugen oder nicht, also, ob sie auch nach der Kindheit Milch trinken konnten oder diese nicht mehr vertrugen.

Italienische Wissenschaftler haben beispielsweise nachgewiesen, dass «Ötzi» keinen Milchzucker zu sich nehmen konnteExterner Link – entgegen den meisten modernen Europäern, die mit Milch aufgezogen wurden. Die Wissenschaft ist sich uneinig über die Hypothese, dass die genetische Veränderung in Richtung einer Toleranz von Milchprodukten in Europa hunderte Jahre brauchte.

Für die Zukunft

Etwas aus der Vergangenheit für die Gegenwart und die Zukunft zu lernen, sei sehr stimulierend, sagt Rühli. «Und es geht zum Kern unserer Herausforderungen: Wenn wir die Lebenserwartung erhöht haben, was alle in einem positiven Sinn betrifft, aber auch finanzielle Folgen hat, wie weit sollte dann medizinische Technologie gehen? Was kann in 50 Jahren mit medizinischer Technologie erreicht werden? Und welche Konsequenzen wird das für unseren Körper haben?», fragt Rühli.

«Man sieht klar, dass Menschen, die sich weniger bewegen, weniger robust werden und sich leichter Knochen brechen. Jede Veränderung hat also eine Auswirkung, und ich glaube, das ist das Faszinierende an diesem neuen Zugang innerhalb des traditionellen Forschungsfelds der Medizin.»

Das Institut für Evolutionäre Medizin (IEM)

Die Hauptkompetenzen des IEM, das seit September 2014 als vollwertiges Institut an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich angesiedelt ist, liegen in den Bereichen DNA aus dem Altertum, morphologische Entwicklung des Bewegungsapparats und Studien an Mumien.

Ende Juli, Anfang August 2015 fand am IEM die erste Konferenz über evolutionäre Medizin in Europa statt. Expertinnen und Experten verschiedenster Disziplinen (Medizin, Anthropologie, molekulare/evolutionäre Biologie, Paläopathologie, Archäologie, Epidemiologie, Geschichte und weitere Studienbereiche) kamen zusammen.

Unter den Hauptreferenten war auch Nobelpreisträger Harald zur Hausen, der deutsche Virologe, der den Zusammenhang des humanen Papillomvirus (HPV) mit Gebärmutterhalskrebs nachweisen konnte.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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