«Die Rolle der Frauen nicht unterschätzen»
Der "heilige Krieg" der Islamisten ist nicht das Vorrecht der Männer. Auch Frauen, zuweilen auch sehr junge, reisen nach Syrien. Ein Phänomen, das die Forscherin Géraldine Casutt derzeit erforscht. Interview.
Sie heissen Samra (16) und Sabina (15). Die beiden Teenager aus Bosnien und Herzegowina, die in Wien wohnen, sind am vergangenen 10. April verschwunden. «Wir sind nach Syrien verreist, um für den Islam zu kämpfen. Wir werden uns im Paradies wieder sehen «, haben sie in der Abschiedsbotschaft an ihre Familien geschrieben.
In den letzten Monaten haben auch junge Französinnen versucht, nach Syrien zu gelangen. Einige haben es geschafft. Geraldine Casutt ist Assistentin für Religionswissenschaft an der Universität Freiburg.
Ist Dschihadismus nicht in erster Linie eine Angelegenheit von Männern?
Géraldine Casutt: Überhaupt nicht. Die Tatsache, dass die Frauen nicht im Scheinwerferlicht erscheinen, heisst nicht, dass es sie nicht gibt. Sie können die Mudschaheddin im Kampf für die Propaganda in Europa und vor allem auch im Internet unterstützen.
Frauen sind zwar in Syrien als Kämpferinnen weniger aktiv als Männer, aber sie sind auf vielen sozialen Netzwerken präsent. Dort verbreiten sie die Neuigkeiten der kämpfenden Dschihad-Gruppen, kommentieren die Lage und veröffentlichen Fotos. Die Macht der Frauen im Dschihadismus sollte daher nicht übersehen werden.
Tragen die Frauen auch Waffen?
G.C.: In sozialen Netzwerken sieht man Bilder von Frauen, die Niqab und Kalaschnikows tragen und den bewaffneten Kampf befürworten. Die primäre Rolle der Frauen ist es jedoch, im Schatten der Kämpfer zu stehen, Mutter zu sein und für die Familie zu schauen. Medien haben von Bataillonen berichtet, die Krieg führen und ausschliesslich aus Frauen und ihren Kindern zusammengesetzt sind. Aber diese Frauen sind Witwen, das verleiht ihnen einen anderen Status.
Sind die Frauen im Islam auch angehalten, sich dem Dschihadismus zu unterwerfen?
G.C.: Ja. Die Aufrufe im Internet zum heiligen Krieg richten sich oft an die «Brüder und Schwestern». Man erwartet insbesondere von den Frauen, dass sie die Männer nicht daran hindern, in den Krieg zu ziehen. Eine weitere und oft geäusserte Erwartung an die Frauen ist die, dass sie ein Zuhause gründen, in dem künftige Krieger aufwachsen können.
Wie kommt es, dass sich die Frauen radikalisieren?
G.C. : Ich brauche dieses Verb nur widerwillig. Die Männer und Frauen, die sich für den heiligen Krieg einsetzen, betrachten sich nicht als Fundamentalisten. Sie haben vielmehr das Gefühl, sich für eine gute Sache einzusetzen, indem sie gegen Ungerechtigkeiten kämpfen. Sie wollen Syrien helfen, das in ihren Augen von der westlichen Welt fallengelassen worden ist. So könnten auch Humanisten agieren, ausser, dass die Dschihadisten auch religiöse Motivationen und Ambitionen haben. Kurz gesagt, denken sie, einen gerechten Krieg zu führen.
Gibt es einen typischen biographischen Weg zum Dschihad?
G.C.: Es ist sehr einfach, auf Facebook oder Twitter dschihadistisches Material zu finden. Es ist ebenso einfach, nach Syrien zu reisen. Aber es gibt den typischen Weg genauso wenig, wie es das typische Profil eines Sympathisanten gibt.
Doch es gibt auch Motivationen, die mehrfach vorkommen. Die Frauen sehen sich in der Regel als Opfer von islamfeindlichen Handlungen. Sie nennen etwa das Schleierverbot in Frankreich, aber auch das Schleierverbot an den Schulen.
Sie fühlen sich daran gehindert, so zu leben, wie sie möchten. Man muss effektiv aufhören zu glauben, dass diese Frauen Opfer ihres Ehemanns oder des Islams sind. Sie wählen den Schleier freiwillig. Es ist auch so, dass viele Frauen gehen wollen, aber nur wenige den Sprung auch wagen.
Frankreich spürt die Verbitterung der militanten Dschihadisten. Und die Schweiz?
G.C.: Im Allgemeinen scheint sie nicht ein Hauptziel für Dschihadisten zu sein. Ich bin wirklich überrascht, denn die Anti-Minarettinitiative und das Burka-Verbot im Tessin sind in der Tat ziemlich starke Anzeichen von Islamfeindlichkeit.
Sich fragen sich, ob das Vorgehen dieser Frauen eine Form des Feminismus sei. Was ist Ihre Antwort?
G.C. :Nein, Feminismus ist zu stark eine westliche Angelegenheit, die ein Frauenbild beinhaltet, dem diese Frauen nicht entsprechen. Feminismus würde die muslimische Gesellschaft aus dem Gleichgewicht bringen. Diese Frauen wollen sich nicht im Sinne des Feminismus emanzipieren. Wieso sollten sie eine Ordnung verändern, die sie als perfekt empfinden? Sie suchen nicht die Gleichberechtigung, die sie als Heuchelei empfinden. Sie sehen sich komplementär zu den Männern.
Gibt es dennoch Anzeichen eines Wunsches nach Emanzipation?
G.C. : Statt von Feminismus würde ich eher von «Femislamismus» sprechen. Es ist eine Form der Emanzipation von der westlichen Gesellschaft, ihren sozialen Normen, ihren Kleidern und vom Bild der Frau in der Werbung. Diese Frauen wollen die muslimische Gemeinschaft regenerieren und fühlen sich entfremdet und überall unterdrückt. Aber sie wollen nicht den Platz der Männer einnehmen. Das Modell, dem sie nacheifern, sind die Ehefrauen des Propheten.
(Übersetzung aus dem Französischen: Andreas Keiser)
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