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Die Schweiz als «Goldstandard» für Atomschutzbunker

Zivilschutzraum
Emilien Itim

Seit 1962 hat sich die Schweiz mit dem Bau und der Ausrüstung von Schutzkellern einen Namen gemacht. Das ging so weit, dass Diktatoren wie Muammar al-Gaddafi oder Saddam Hussein darauf aufmerksam wurden.

Wussten Sie das? Die Schweiz ist heute das einzige Land der Welt, in dem seit 1962 gesetzlich verankert ist, dass jede Einwohnerin und jeder Einwohner das Recht auf einen geschützten Raum unter der Erde hat. Ein Quadratmeter pro Person, um es kurz zu machen.

Diese Vorgabe nahm 1963 mit der Gründung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz konkrete Formen an. Ausgehend von der Sorge, welche die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki auslösten, und vor allem von der Angst, die der Kalte Krieg hervorrief.

Diese Besonderheit, die seit einem Jahr durch den Krieg in der Ukraine wieder in den Fokus geraten ist, hat dem Land einen weltweiten Ruf als staatliche Bunkerbauerin eingebracht. Einige Diktatoren haben sogar Schweizer Firmen mit dem Bau und/oder der Ausrüstung ihrer Bunker beauftragt.

«Während des Volksaufstands in Libyen 2010 filmte Al-Jazeera, wie Demonstranten in eine der Villen von Oberst Gaddafi in Al-Baida eindrangen – einen Bunker, dessen Belüftungssystem vollständig von einer Schweizer Firma geliefert worden war», sagt Iskander Guetta. Er ist neben Tanguy Caversaccio und Elio Panese einer der drei Kuratoren der Ausstellung «Aux abris»Externer Link, die bis vor Kurzem in Lausanne zu sehen war.

Die libysche Anekdote stammt aus einem Aufsatz mit dem Titel «Der Aufstieg der Schweiz zur globalen Bunkerexpertin im Atomzeitalter».

Die Autorin, Silvia Berger Ziauddin, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Bern, berichtet anhand von Pressemeldungen, dass Schweizer Firmen bereits in den 1980er-Jahren, als Saddam Hussein an die Macht kam, auch im Irak tätig waren.

Eine erfolgreiche Karriere

Professorin Silvia Berger Ziauddin
Silvia Berger Ziauddin, Professorin an der Universität Bern, hat sich vor allem mit der Geschichte der Zivilschutzbunker befasst. DR

In seltenen Fällen arbeiteten diese Firmen auch an militärischen Infrastrukturen, besonders an unterirdischen Spitälern und Schutzräumen für Zehntausende von Menschen.

«Potentaten wie Gaddafi oder Hussein setzten bei ihren Schutzraumprojekten nicht nur auf schweizerische, sondern auch auf Firmen aus anderen Ländern. Auch Finnen und Deutsche beispielsweise waren in der Region sehr aktiv», sagt Berger Ziauddin, deren Forschungsschwerpunkte die Schweiz in der Zeit des Kalten Kriegs und die Ära des flächendeckenden Baus von Zivilschutzräumen Zivilschutzräumen sind.

Dennoch: Die kleine Schweiz nutzte die Angst vor dem Kalten Krieg und dessen nuklearen Risiken, um nach und nach zum «Goldstandard» für Bunkerbau und -technologie zu werden.

«Die Konstruktionsrichtlinien und der Technologietransfer [speziell mit den USA] verhalfen dem Schweizer Bunker zu einer erfolgreichen Karriere in der ganzen Welt», schreibt Berger Ziauddin.

Das Knowhow, das Schweizer Firmen in die ganze Welt exportierten, war laut Berger Ziauddin bis heute eine Goldgrube. «Noch heute sind die Schweizer Konstruktionsspezifikationen für private und öffentliche Schutzräume weltweit Standard, und Schweizer Produkte dominieren den Markt für Bunkertechnologie und -zubehör», sagt sie.

Kosten von fast 12 Milliarden Franken

In der Schweiz wurden seit 1962 bis heute rund 12 Milliarden Franken für den Bau von Schutzräumen ausgegeben. Die meisten davon sind private Bauten, die sich unter Gebäuden oder Wohnhäusern befinden.

Für diese Bauten sind die Kantone und Gemeinden zuständig. Erstaunlich ist jedoch, wie unterschiedlich die Politik von Kanton zu Kanton ist.

«Freiburg zum Beispiel verfügt über 100 Prozent öffentliche Schutzräume. Im Kanton Appenzell Innerrhoden ist es genau umgekehrt, dort hat jedes Haus seinen eigenen Schutzraum», sagt Ausstellungsmacher Guetta.

Schutzraum
Im Schutzraum der alten Post am Bahnhof von Lausanne. Emilien Itim

Laut dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz standen Ende 2022 in der Schweiz für rund 8,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in etwa 370’000 Schutzräumen – davon 9000 öffentliche – rund 9,3 Millionen Schutzplätze zur Verfügung.

Dies entspricht einem Deckungsgrad von 107%, denn aktuell leben in der Schweiz neun Millionen Menschen. Es gibt jedoch Unterschiede, da fünf Kantone – darunter der Kanton Waadt – einen Deckungsgrad von weniger als 100% aufweisen.

Anfang Mai gab die Behörde bekannt, dass die kleinen Schutzräume (mit bis zu sieben Plätzen) sukzessive zugunsten von grösseren, vor allem öffentlichen Schutzräumen umgenutzt werden sollen.

Ein Grund dafür sind die veralteten Lüftungsgeräte, die über 40 Jahre alt sind und längst nicht mehr hergestellt werden. Die Massnahme betreffe rund 100’000 Gebäude mit einer Kapazität von 700’000 Schutzplätzen, wie Andreas Bucher vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz sagt.

In einem Bunker
Blick auf ein Bild der Ausstellung, die im Bunker der alten Post am Bahnhof von Lausanne zu sehen war. Emilien Itim

Die kleineren Schutzräume bleiben wohl bestehen, dienten sie doch schon immer auch einem anderen Zweck als dem Schutz vor Bedrohung durch einen bewaffneten Konflikt: als Abstell- oder Bastelraum, als Weinkeller, manchmal auch als Wohnzimmer.

Bei den öffentlichen Schutzräumen aber, die 300 bis 5000 Menschen oder sogar noch mehr aufnehmen können, stellt sich aber diese Frage: «Das sind sehr grosse Räume, die aber in der Regel nicht genutzt werden. Das gilt auch für den Schutzraum Beaulieu in Lausanne, der mit 3048 Plätzen der grösste der Region ist und der völlig leer steht. Welches Potenzial kann hier genutzt werden?», fragt Guetta.

Die Problematik der Unterbringung von Migrantinnen und Migranten

Die Wahl des Ausstellungsorts in Lausanne war kein Zufall: Der Bunker des ehemaligen Postgebäudes am Bahnhof blieb seit der Errichtung in den 1960er-Jahren unverändert – eine Zeitkapsel.

«Wir haben alte Zeitungen und technische Abnahmeberichte aus dieser Zeit gefunden», sagt der gelernte Designer Guetta. Um das Ganze noch authentischer zu machen, haben die Kuratoren aus einer anderen Unterkunft im Kanton Waadt riesige Dosen mit Überlebensnahrung mitgebracht. «Wir wissen nicht, was drin ist. Und sie haben kein Verfalldatum…».

Es bleibt festzuhalten, dass diese grossen, leeren Räume Potenzial haben. Die Gemeinden haben dies erkannt und stellen sie seit langem Dorfvereinen oder -gesellschaften als Umkleide- oder Proberäume zur Verfügung. Manchmal dienen sie auch der Unterbringung von Kulturgütern. In Zürich ist eine Kirche in einem Bunker untergebracht.

Iskander Guetta
Iskander Guetta war einer der Kuratoren der Ausstellung «Aux abris», die diesen Frühling in Lausanne stattgefunden hat. DR

«Im Tessin wurde ein Schutzraum zur Kletterhalle umfunktioniert. Und in Locarno lagert das Festival dort Filme ein. Andernorts werden die Räume als Minigolfplatz, Schiessstand oder Sozialraum genutzt. Sehr verbreitet ist die Nutzung als Aufnahmestudio, weil die Akustik sehr gut ist», sagt Guetta.

Problematischer ist für die Kuratoren der Ausstellung die Nutzung der Bunker als Unterkünfte für Migrantinnen und Migranten. «Wir plädieren dafür, diese Räume der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Aber nicht, um dort Asylsuchende unterzubringen. Einige von ihnen haben uns gesagt, dass sie schockiert sind, unter der Erde zu leben und ignoriert zu werden. Es sind dunkle Räume, die zur Gewalt ihrer Migrationswege hinzukommen», kritisiert Guetta.

Editiert von David Eugster, Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

Übertragung aus dem Französischen: Christian Raaflaub

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