«Die Schweiz bräuchte ein Anti-Stalking-Gesetz»
Anders als einige Nachbarländer hat die Schweiz kein Gesetz gegen Stalking. Dadurch sind die Opfer schlechter geschützt. Deshalb hat die Stadt Bern nun eine Beratungsstelle eingerichtet. Mit einer professionellen Beratung steigen zumindest die Chancen, dass die Belästigung gestoppt werden kann.
Michelle Hunziker, die Fernsehmoderatorin mit Berner Wurzeln, ist in der Bundesstadt wohl das prominenteste aber nur eines von vielen Opfern von Stalking. Durchschnittlich wendete sich in den letzten zwei Jahren in Bern eine Person pro Monat an die Fachstelle für häusliche Gewalt.
Stalking-Fälle sind heute vermutlich nicht häufiger als früher, aber Betroffene finden – auch bedingt durch die Veröffentlichung prominenter Fälle – eher den Mut, sich bei den Behörden zu melden.
Die rechtliche Situation sei aber für Stalking-Opfer in der Schweiz nach wie vor unbefriedigend, sagt Ester Meier, Chefin des Amts für Erwachsenen- und Kindesschutz, im Gespräch mit swissinfo.ch.
swissinfo.ch: Was ist ein typischer Stalking-Fall?
Ester Meier: Zu Stalking-Fällen kommt es meistens aus einer Beziehung heraus, die in die Brüche gegangen ist. Man spricht von Stalking, wenn es sich um ein bewusstes, böswilliges und wiederholtes Verfolgen oder ein ständiges Belästigen oder Schikanieren handelt.
Der Grenzbereich ist dann überschritten, wenn ein Nein des Opfers nicht mehr akzeptiert wird. Bei Stalking kommen Belästigungen verschiedener Art zusammen wie etwa unerwünschte Mitteilungen oder Beschimpfungen per SMS oder E-Mail. Sehr oft treibt sich der Stalker zudem in der Nähe des Opfers herum, lauert etwa am Arbeitsplatz oder vor der Wohnung auf oder verfolgt es mit dem Auto.
Laut Studien aus Deutschland und den USA warem rund 12 Prozent der Bevölkerung einmal in ihrem Leben von Stalking betroffen. Man geht von einer grossen Dunkelziffer aus, weil die Opfer sich oft nicht zu melden wagen.
Stalking hat es jedoch schon immer gegeben, früher war einfach von Schikanieren oder Belästigen die Rede.
swissinfo.ch: Wie soll sich das Opfer in einer solchen Situation verhalten?
E.M.: Wichtig ist, dass das Opfer Nein sagt und dabei bleibt. Gerade Frauen tendieren dazu, nach Verständigung zu suchen, immer wieder mit dem Täter zu sprechen oder ihm im Gespräch klar machen zu wollen, dass sie nichts von ihm wissen wollen.
Jede Kontaktaufnahme vom Opfer bestärkt den Täter jedoch darin, dass das Opfer doch etwas von ihm will. Denn er hat eine verzerrte Wahrnehmung, ist sich meistens absolut nicht bewusst, dass er im Unrecht ist.
Unsere Botschaft an die Opfer ist deshalb, den Kontakt mit dem Stalker konsequent zu vermeiden, auch wenn das sehr schwierig ist.
Je früher das Opfer reagiert, desto besser. Das Ganze bleibt zuerst meistens auf der Basis von Liebesbezeugungen. Die Situation eskaliert, sobald der Stalker merkt, dass seine Bemühungen ins Leere laufen.
Dann kommen Hass und Rachegelüste auf und es kann zu Beschimpfungen, Gewaltandrohungen, Beschmutzen und Zerstören von Eigentum, Verletzen und Töten von Haustieren sowie körperlichen und sexuellen Übergriffen kommen.
swissinfo.ch: Wie geht die neu eröffnete Fachstelle Stalking-Beratung der Stadt Bern konkret vor?
E.M.: Unsere Beratungsstelle macht zuerst eine Informationserhebung zusammen mit dem Opfer.
Es geht um Fragen wie «Welche Beziehung hat das Opfer zum Stalker? Wer ist alles in den Stalking-Fall involviert? Wie hat das Opfer bis jetzt reagiert?» In einem zweiten Schritt folgt eine Risikoanalyse.
Ziel unserer Beratung ist in erster Linie, mit unserem niederschwelligen Angebot das Tabu Stalking zu brechen.
swissinfo.ch: Gibt es besonders gefährdete Menschen oder kann jeder zum Stalker werden?
E.M: Man kann sagen, dass das Risikopotenzial bei Personen, die nicht in der Gesellschaft eingebettet sind, höher ist. Doch grundsätzlich gibt es keine besonderen Merkmale, also jeder und jede kann zum Stalker oder zur Stalkerin werden. Man darf den Stalker keinesfalls einfach als krank abstempeln, es kommt einfach auf die jeweilige Situation darauf an.
Es ist jedoch eine Tatsache, dass es sich bei Stalkern vor allem um Männer handelt. Dies ist namentlich darauf zurückzuführen, dass Männer bei einer persönlichen Verletzung, etwa wenn eine Beziehung auseinandergeht, eher offensiv reagieren und versuchen, die Beziehung mit jedem Mittel wieder herzustellen. Frauen reagieren in einer solchen Situation hingegen eher defensiv, ziehen sich zurück und trauern für sich.
swissinfo.ch: Der Fall des ehemaligen Armeechefs Roland Nef, dem Stalking vorgeworfen wurde, hat dem Phänomen in der Öffentlichkeit viel Aufmekrsamkeit verleiht? Hat der Fall auch zur Sensibilisierung beigetragen?
E.M.: Wir gehen davon aus, dass sich durch die Sensibilisierung in den Medien, sicher auch durch den Fall Nef, mehr Opfer bei den Beratungsstellen gemeldet haben.
Generell kann man sagen, dass in den letzten zehn Jahren auch Polizei und Richter stark für das Thema sensibilisiert wurden.
Was sich gegenüber früher verändert hat, sind auch die Mittel der Stalker. Mit den modernen Kommunikationsmitteln wie SMS und E-Mails ist es für sie in einem gewissen Sinn einfacher geworden, ihr Opfer zu belästigen.
swissinfo.ch: Wo sehen Sie Handlungsbedarf?
E.M.: Bei der Gesetzgebung. Deutschland und Österreich verfügen im Gegensatz zur Schweiz über ein spezielles Anti-Stalking-Gesetz. Der Bundesrat ist der Meinung, dass das geltende Strafrecht typische Stalker-Verhaltensweisen wie etwa Nötigung, Drohung oder üble Nachrede abdeckt. Unserer Ansicht nach ist jedoch die Situation für die Opfer in der Schweiz unbefriedigend.
Da in der Schweiz Stalking im Strafgesetz nicht konkret als Straftatbestand aufgeführt wird, muss das Opfer selber Klage einreichen. Auch die Last der Beweisführung liegt bei ihm.
Im Fall eines Prozesses kommt es zudem zu einer direkten Konfrontation von Opfer und Täter, was äusserst problematisch ist.
Würde Stalking als Offizialdelikt gelten, so wäre der Staat und nicht das Opfer Partei. Auch hätte dann die Polizei die Möglichkeit, sofort gegen Stalker vorzugehen.
Angesichts der rechtlichen Situation in der Schweiz, die nicht gerade zum Vorteil der Stalking-Opfer ausfällt, sind unkomplizierte, schnelle und kostenlose Beratungsstellen umso wichtiger.
Corinne Buchser, swissinfo.ch
Das Amt für Erwachsenen- und Kinderschutz der Stadt Bern hat neu die Fachstelle Stalking-Beratung eingerichtet.
Sie will Betroffene unkompliziert, schnell und kostenlos unterstützen.
Laut Studien in den USA und Deutschland wurden 12 Prozent der Bevölkerung schon einmal gestalkt.
Die Täter sind zumeist ehemalige Intimpartner oder Arbeitskollegen. In fast 90 Prozent aller Fälle sind die Täter männlich.
Oft handelt es sich um Männer, die das Ende einer Beziehung nicht akzeptieren können oder sich vergeblich um eine Liebesaffäre bemüht haben.
Die Formen der Belästigung sind vielfältig – verbreitet ist etwa der SMS- und Telefon-Terror.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch