Die Schweiz ringt mit Rassismus in Köpfen und auf Sockeln
Seit Anfang der "Black Lives Matter"-Proteste reisst die Debatte in der Schweiz über rassistische Begriffe nicht ab. Aber Experten sagen, dass diese um den strukturellen Rassismus vorbeiredet. May Elmahdi-Lichtsteiner, Journalistin der arabischsprachigen Redaktion von SWI swissinfo.ch, sprach mit einer Expertin und einem Experten über die Macht der Sprache in der Schweiz.
Die aktuelle Debatte über Rassismus in der Schweiz hat gezeigt, dass der Begriff des Rassismus nicht klar definiert ist. Die Liste der Namen, Produkte, Bücher und Denkmäler, die aufgrund des Verdachts von Rassismus hinterfragt werden, wird immer länger.
Ganz zu schweigen von der immer wieder aufflammenden Debatte vor jeder Fasnacht über Tabus und die Grenzen des Humors. Das häufigste Argument gegen den Rassismus-Vorwurf lautet, dass diese Angelegenheiten und Begriffe historisch gewachsen seien und keine böse Absicht dahinterstecke.
Als Migrantin fallen mir immer wieder Stereotypen über Araberinnen und Araber in Kinderbüchern oder Kinderliedern auf. Und wie wäre Mani Matters «Dr Sidi Abdel Assar vo el Hama» zu beurteilen? Die im Berner Chanson besungene Figur hätte gerne ein schönes arabisches Mädchen gehabt, kann sie aber nicht heiraten, weil er sich die Mitgift von 220 Kamelen nicht leisten kann.
Aber das betrifft auch Erwachsene: Medienberichte über die arabische Welt werden in meiner Wahrnehmung auffällig oft mit Bildern von Tieren in den Strassen illustriert – vor allem mit Eseln. Ich frage mich dann jeweils, ob es denn wirklich so viele Esel bei uns gibt und ob die mir – im Gegensatz zu westlichen Berichterstattern – einfach nicht auffallen? Sicher wird damit das Weltbild der Leserinnen und Leser geprägt. Aber ist das Rassismus?
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Rassismus in der Schweiz? Eher strukturelle Diskriminierung
«Wir dürfen nicht vom realen Schauplatz abgelenkt werden»
Miryam Eser Davolio, Professorin am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe an der Zürcher Fachhochschule für Angewandte Wissenschaften, sagt dazu: «Es ist notwendig, zwischen Rassismus und anderen Begriffen zu unterscheiden, wie Labeling, Othering oder Diskriminierung.»
Wichtig sei jedoch, dass die verschiedenen Facetten gezeigt würden. «Die Manifestation von Unterschieden und Vielfalt bedeutet nicht per se Rassismus. Erst wenn diese mit einer Wertung, wie etwa Höherwertigkeit versus Minderwertigkeit, Benachteiligung und Diskriminierung in Zusammenhang gebracht wird, dann kann man von Rassismus sprechen.»
Eser Davolio fordert deshalb einen differenzierteren Umgang mit solchen Stereotypen und einen Fokus auf jene Lebensbereiche, in denen Menschen aufgrund von Vorurteilen ungleich behandelt werden. «Wir sollten uns vor allem nicht von den grundlegenden Themen und realen Schauplätzen ablenken lassen, nämlich dem strukturellen Rassismus.» Dazu gehörten zum Beispiel polizeiliches Profiling, Diskriminierung bei der Job- und Wohnungssuche, Ausschluss von Minderheiten, Islamfeindlichkeit oder Antisemitismus sowie Ausbeutung anderer Länder.
Die Macht der Sprache und ihre Funktion
Anders denkt Urs Urech, Geschäftsführer der Stiftung für Erziehung zur Toleranz in Zürich. Er betrachtet die Sprache als Spiegel des Denkens und als Motor des Verhaltens. Im Gespräch mit swissinfo.ch vergleicht er die Sprache mit einem Lebewesen, das sich ständig verändert, wächst und sich entwickelt.
Für Urech existiert eine wechselseitige Beziehung zwischen diskriminierender Sprache und rassistischem Verhalten: «Rassismus ist zuerst eine Einstellung, eine Grundhaltung. Erst dann kommt die Handlung, verbal oder in der Tat.» Diese könne sich zum Beispiel im Abstimmungsverhalten manifestieren, durch Spenden für Parteien und Organisationen oder auch das Kaufverhalten.
«Gerade in Scherzen zeigt sich über die Sprache auch die Einstellung, und man lernt, was gesellschaftlich konform ist.»
Urs Urech, Geschäftsführer Stiftung für Erziehung zur Toleranz
«Begriffe und Stereotypen sollten diskutiert werden, weil sie die Haltung und die Einstellung der Person zeigen,» sagt er. «Man muss sie hinterfragen.» Dies gelte auch bei Humor. «Denn gerade in Scherzen zeigt sich über die Sprache auch die Einstellung, und man lernt, was gesellschaftlich konform ist.»
Am Ende gehe es um diese Kombination von Haltung und Unterdrückung, von rassistischer Sprache und systematischem Rassismus. «Man muss beide bearbeiten», sagt er. Wenn zum Beispiel eine Schulverwaltung aufgrund von Mobbing und Rassismus eingreifen müsse, bedeute dies, dass sie zu spät gehandelt und keine richtige Diskussion stattgefunden habe.
Gleichzeitig müsse sich die Gesellschaft aber auch mit der systematischen Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, im Wohnungswesen und im Bildungssystem auseinandersetzen. Darin sind sich die Expertin und der Experte einig.
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Französische Journalistin kritisiert frankophoben Rassismus der Schweizer
Und was ist mit der Vergangenheit?
Noch komplizierter wird die Rassismus-Debatte, wenn sie sich auf die Schweizer Geschichte und die Klassiker der Literatur und Denkmäler erstreckt. Im Zusammenhang mit der «Black Lives Matter»-Diskussion seien diese Fragen im öffentlichen Diskurs behandelt worden, als ob der «Rassismus wiederentdeckt worden wäre», so Eser Davolio, wenngleich «das Interesse an der Rassismusthematik sehr zu begrüssen ist».
Die Universitätsprofessorin spricht sich klar gegen den Abriss von Denkmälern aus, fordert aber eine Aufklärung des historischen Kontextes und der damit verbundenen Kontroversen. Anstatt die alten zu beseitigen, sollen diese mit neuen Gedenktafeln versehen und neue Denkmäler gegen Rassismus aufgebaut werden.
Das gelte auch für Bücher. «Es wäre ein grosser Verlust für die Kinder, wenn sie die Klassiker der deutschen Literatur wie zum Beispiel Michael Endes ‹Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer› nicht mehr lesen könnten. Doch sollten dabei die problematischen Begriffe und Bilder diskutiert werden», sagt Eser Davolio.
In Endes Buch hat sich der Verlag bewusst entschieden, N-Worte auch in einer neuen Auflage originalgetreu zu belassen, da das Buch in seiner Intention und Aussage ein Manifest für Diversität sei – das Gegenteil von rassistisch. Eser Davolio teilt zwar die Ansicht, dass die Präsentation der Figuren nicht rassistisch sei, doch hätte sie eine Ersetzung des N-Worts durch neutrale Begrifflichkeiten bevorzugt.
Urech würde es bevorzugen, wenn diese Bücher kleinen Kindern nicht vorgelesen oder wenn, dann auf andere Weise erzählt würden. «Erst wenn die Kinder ein Alter erreicht haben, in dem sie den geschichtlichen Kontext verstehen, sollten sie diese Bücher lesen», sagt Urech. Denn es sei wichtig, über die Verwendung gewisser Begriffe zu diskutieren und vielleicht sogar gewisse Texte mit den Kindern neu zu schreiben oder umzuformulieren.
«Rassismus wird es immer geben, auch ohne Migration»
Wann genau und wie Vorurteile bei Kindern und Jugendlichen entstehen, sei wissenschaftlich immer noch nicht belegt, sagt Eser Davolio: Mehr als in Kinderbüchern sieht sie eine der Hauptursachen im Dominanzanspruch und in Überlegenheitsgefühlen, welche Kindern etwa im Umgang mit Reinigungspersonal oder bei Fernreisen mit der lokalen Bevölkerung vermittelt würden und sie in die Selbstverständlichkeit der Ungleichheit hineinsozialisiere.
«Wenn ein Kind nach einem bestimmten Sozialmodell aufwächst, mit dem Bewusstsein, dass dieses Modell die einzige gesellschaftliche Norm ist, ist es schwierig, etwas Anderes zu akzeptieren.»
Die Debatte über Rassismus werde noch lange dauern, und Rassismus werde es immer geben, glaubt Urech. Auch in Gemeinschaften, in denen keine Menschen mit Migrationshintergrund leben: «In Dörfern, in denen es keine Ausländer gibt, werden andere Menschen belächelt, beleidigt oder an den Rand gestellt.»
(adaptation de l’allemand: Katy Romy)
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