«Die Schweiz streut sich Sand in die Augen»
Peter von Matt, Schriftsteller und emeritierter Professor für Germanistik der Universität Zürich, bekennt sich zu seinem Patriotismus. Seiner Ansicht nach ist die aktuelle Polemik um die Einwanderung von Deutschen reine Wahltaktik.
Am 7. März, dem eidgenössischen Abstimmungstag, finden in der Stadt Zürich Wahlen statt.
Die Schweizerische Volkspartei (SVP) nimmt diesen Urnengang zum Anlass, um erneut eine Polemik gegen die Deutschen im Allgemeinen und zusätzlich gegen die deutschen Professoren an der Universität zu lancieren.
Damit geisselt die SVP einmal mehr die Ausländer und die Intellektuellen, zwei ihrer Lieblings-Zielscheiben.
Einer dieser Intellektuellen ist der Schriftsteller und Essayist Peter von Matt. Er lässt keine Gelegenheit aus, das «tiefe Niveau» der SVP-Argumentation anzuprangern.
Der Germanist ist ein vehementer Verfechter einer europäischen Zukunft für die Schweiz. Er sagt auch, er werde sich sein Land nicht von Populisten und Isolationisten stehlen lassen.
swissinfo.ch: Mit dem Kauf gestohlener Bankdaten durch Deutschland erleidet die Schweiz einen weiteren harten Schlag. Sie haben sich in Ihrer 1.-August-Rede zum Patriotismus bekannt. Denken Sie, die Schweiz hat alle ihre «Freunde» verloren?
Peter von Matt: Die Probleme mit den Banken bestärken das Image eines egoistischen Landes mit doppeldeutigen Gesetzen, das nur ans Geld denkt. Unsere Nachbarn haben jegliche Zurückhaltung verloren bezüglich dem Kauf gestohlener Daten.
Seltsam ist, dass dieses Ereignis so schnell und lautstark bekannt gegeben wurde. Denn normalerweise kümmern sich Geheimdienste um solche Dinge, und die Öffentlichkeit erfährt nichts davon. Jetzt sagt man es laut und deutlich, um Druck auf die Steuerzahler auszuüben.
Deutschland kann sich mit seiner extrem hohen Verschuldung nicht erlauben, sich von der edlen Seite zu zeigen und zu sagen «wir kaufen diese Daten-CD nicht, auch wenn sie uns Millionen einbringt». Ich weiss aber nicht, was die Schweiz in einer vergleichbaren Situation tun würde.
swissinfo.ch: Das Grounding der Swissair, die Aufruhr um die Grossbank UBS, die Steuerkonflikte mit unseren Nachbarn, Libyen… Steckt hinter all diesen Krisen die Inkompetenz?
P.v.M.: Es gibt den Reflex, der nach einem Schuldigen sucht. Und auch die Antwort ertönt wie ein Reflex: «Der Bundesrat ist schuld!» Aber die Regierung hat im letzten Jahr nicht so schlecht gearbeitet. Sie hat auf die Wirtschaftskrise sogar gut reagiert. Aber immer kommen diese idiotischen Forderungen nach einem «starken Mann», den es brauche.
«Der starke Mann» ist aber ein unpolitisches Konzept. Es gibt nur Politiker, die Erfolg haben und solche, die erfolglos sind. Und der Erfolg misst sich an Dutzenden von Kriterien. Autorität ist aber kein Kriterium, sondern ein Charakterzug.
swissinfo.ch: Woher kommt Ihr Interesse für Politik?
P.v.M.: Ich bin ein Schweizer Bürger! (lacht). Als Literaturprofessor habe ich mich stark mit dem 19. Jahrhundert und den Schriftstellern dieser Zeit auseinandergesetzt, so etwa mit Jeremias Gotthelf, Gottfried Keller, Heinrich Heine und zahlreichen anderen. Wenn man mit diesen Figuren operiert, landet man zwangsläufig in der Geschichte.
Ich habe gesehen, inwiefern die Politik in die Literatur «einfliesst», vor allem in der Schweiz. Das 19. Jahrhundert ist äusserst spannend, nicht nur wegen 1848. Die moderne Schweiz entstand in der Zeit der Revolutionen in den Kantonen 1830 und den Jahren danach.
In diesen Jahren kam es immer wieder zu Putschs. Das Wort stammt aus einem alemannischen Dialekt und bedeutet «Zusammenstoss», «Kollision». Zusammen mit dem Ausdruck «Müesli» sind das zwei Wörter, die unser Dialekt der Welt geschenkt hat. (lacht).
swissinfo.ch: Wenn wir den Faden weiter spannen, könnte man also sagen, dass das Wort «Putsch» nicht erfunden worden wäre, hätte es in den 1830er-Jahren so viele Deutsche in Zürich gehabt wie heute.
P.v.M.: In dieser Zeit hatte es auch viele Deutsche in Zürich. Den Schweizern sind die Revolutionen gelungen, welche den Deutschen missglückt sind. Alle diese Bewegungen entstammten übrigens den Revolutionen in Paris, die sich über den Rest Europas ausbreiteten.
Die deutschen Niederlagen trieben zahlreiche junge Leute in die Schweiz. Sie liessen sich nieder, publizierten Texte und halfen, die Universitäten in Zürich und Bern zu gründen. Bei ihrer Eröffnung hatte die Universität Zürich ausschliesslich deutsche Professoren!
swissinfo.ch: Die SVP hat in Zürich ihre Wahlmaschinerie gegen die starke deutsche Präsenz und namentlich gegen den so genannten «deutschen Filz» an der Universität in Gang gesetzt.
P.v.M.: Das Thema wurde von der SVP angeheizt, und die Medien greifen es auf und lassen es weiter brennen. Das Wort «Filz», das die Partei benutzt, muss ganz klar als diffamierend verstanden werden. Es ist ein Ausdruck, mit dem etwas abgeschwächt Korruption gemeint ist.
Ich habe an der Universität immer mit deutschen Kollegen gearbeitet, und wir haben nie Probleme gehabt. Es stimmt, dass der Durchschnitts-Schweizer gegenüber den Deutschen immer eine gewisse Feindseligkeit empfand. Und der Zweite Weltkrieg hat dieses Gefühl verstärkt. Es ist aber kein spezifisches Problem.
Wir haben dieselbe Kultur und dieselbe Sprache. Denn die Sprache der Deutschschweiz ist nicht der Dialekt, sondern Deutsch in zwei Formen, die deutsche Hochsprache und der Dialekt. Die Schweiz funktioniert mit der Hochsprache.
swissinfo.ch: Sie sind für einen Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union. Würde das die Probleme der Schweiz lösen?
P.v.M.: Vielleicht nicht direkt, aber die Schweiz muss ihre Beziehungen zu den Ländern, mit denen sie auf einem Kontinent lebt, unbedingt überprüfen. Auch Bergbewohner sind «Global Players». Die Schweiz kann nicht so tun, als ob sie alles alleine bewältigen könnte.
«Uns kann nichts passieren, die Krise ist vorbei, es wird schon gehen»: Wir denken immer, dass alles wieder wie früher werde – wie man es jetzt wie bei jeder Krise erlebt – wir vergessen, dass wir bis zu einem gewissen Punkt auch Glück hatten in der Geschichte. Wir streuen uns Sand in die Augen.
Wenn die Schweiz nicht realisiert, dass all diese Krisen als Ganzes gesehen ein Symptom dafür sind, dass nicht einmal mehr die Grundsätze des Landes garantiert sind, werden wir noch in grössere Schwierigkeiten schlittern. Leider muss es häufig noch schlimmer werden, damit etwas ändert.
Ariane Gigon, Zürich, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein)
Er wurde 1937 in Luzern geboren und wuchs in Stans im Kanton Nidwalden auf.
Von Matt studierte Germanistik, Anglistik sowie Kunstgeschichte an der Universität Zürich, wo er später als Professor neuere deutsche Literatur lehrte (1976-2002).
Der preisgekrönte Buchautor («Die tintenblauen Eidgenossen», «Liebesverrat», «Verkommene Söhne – missratene Töchter», «Wörterleuchten») ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Akademie der Wissenschaften Berlin, der Sächsischen Akademie der Künste und der Akademie der Künste Berlin.
Am 1. August 2009 war Peter von Matt Gastredner an der Bundesfeier auf der Schweizer «Nationalwiese», dem Rütli.
Dieses Jahr wurde der Literaturwissenschafter in den Stiftungsrat berufen, der den renommierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergibt.
Vor Weihnachten 2009 publizierte die Schweizerische Volkspartei (SVP) Zeitungsinserate, in denen zuerst «die ausländische Arroganz» mit einem Bild des damaligen deutschen Finanzministers Peer Steinbrück und später «der deutsche Filz» an der Universität und in den Spitälern in Zürich denunziert wurde.
Laut dem Zürcher «Tages-Anzeiger» war die Anzahl Deutscher an der Universität in den Jahren 2007 und 2008 höher als jene der Schweizer, 2009 hatte es aber wieder mehr Schweizer als deutsches Personal an der Uni.
Die Präsenz von Deutschen in Zürich hat Tradition. 1910 war die Anzahl Deutscher in Zürich (40’373, d.h. 21% Bevölkerung) viermal höher als jene der Italiener. Erst 1950 wohnten mehr Italiener als Deutsche in Zürich.
Seit Inkrafttreten der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 hat sich die Anzahl der Deutschen im Kanton Zürich verdoppelt (71’000 im August 2009) und in der Stadt Zürich zwischen 1997 und 2007 sogar verdreifacht.
Nach Zürich folgen die Kantone Aargau mit 24’000 Deutschen (August 2009), Bern (fast 23’000), St. Gallen (rund 20’000), Thurgau (15’000) und Basel-Stadt (13’000). In diesen Zahlen des Bundesamts für Statistik sind keine Grenzgänger enthalten.
In der Stadt Zürich ist das durchschnittliche versteuerbare Einkommen der Deutschen höher als jenes der Schweizer (Zahlen von 2005), aber auch als jenes der Franzosen.
Noch höher als das Einkommen der Deutschen ist jenes der Holländer, Amerikaner, Engländer und Schweden in Zürich.
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