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«Die Schweizer Schulen halten unser Leben zusammen»

Ein junges ukrainisches Mädchen und ihre Lehrerin in der Schule in Aubonne
Ein junges ukrainisches Mädchen namens Katya und ihre Lehrerin in der Schule in Aubonne. swissinfo.ch

In der Schweiz leben rund 13'000 ukrainische Schüler:innen. Die meisten wissen nicht, wann sie nach Hause zurückkehren werden. Sowohl die Kinder als auch die Schulen müssen lernen, sich anzupassen.

Natalia Voidiuk, eine 42-jährige Psychologin, und ihre Tochter Olexandra kamen im März 2022 in die Schweiz, nur wenige Wochen nach Ausbruch des Kriegs in der Ukraine. Sie brauchten acht Stunden, um die Grenze nach Polen zu Fuss zu überqueren. Dann verbrachten sie eine Nacht in Krakau, bevor sie mit dem Bus 22 Stunden in die Schweiz fuhren.

«Wir waren sehr müde. An der einen Hand hielt ich meine Tochter, in der anderen trug ich einen Koffer mit Habseligkeiten», erinnert sich die Mutter.

Ihre sechsjährige Tochter Olexandra trug nur einen Rucksack mit ihren Schulbüchern. In Kiew hatte sie gerade mit der Grundschule begonnen. In Murten, einer kleinen Stadt im Kanton Freiburg, hat sie das erste Schuljahr abgeschlossen.

Ein Jahr später fasst Voidiuk ihre Situation zusammen: «Unser grosses Problem ist die emotionale und informationelle Überlastung. Die ukrainischen Frauen verfolgen von zu Hause aus ständig die militärischen und politischen Neuigkeiten. Sie sind in den Informationsfluss eingebunden und machen sich Sorgen um ihre Angehörigen. Das macht es schwierig, sich an ein neues Land anzupassen.»

Einer ihrer Rettungsanker in der Schweiz sei die Schule ihrer Tochter. «Wer Kinder im Schulalter hat, hat ein gut strukturiertes Leben. Die Schule gibt einen Rhythmus vor und sorgt für Stabilität und Hoffnung. Die Schweizer Schulen sind der Kitt, der unser vom Krieg zerrissenes Leben zusammenhält», sagt Voidiuk.

Ein kleines Mädchen in roter Kleidung
Die sechsjährige Olexandra Voidiuk vor ihrer neuen Schule in Murten. Stolz zeigt sie eine Figur von «Ryzhik», ihrer roten Katze, die sie in der Ukraine zurückgelassen hat. Viele ukrainische Kinder vermissen nicht nur ihre Familienmitglieder, sondern auch ihre Haustiere. swissinfo.ch

Statistiken des ukrainischen Bildungsministeriums zeigen, dass im Dezember 2022 etwa 2,25 Millionen ukrainische Kinder Schulen und Kindergärten in europäischen Ländern besuchten. Das entspricht insgesamt 43% aller ukrainischen Kinder.

Rund 13’000 davon befinden sich in der Schweiz, schätzt die neue Ausgabe des Schul-Barometers, ein Forschungsprojekt unter der Leitung des Instituts für Bildungsmanagement und Bildungsökonomie (IBB) der Pädagogischen Hochschule Zug.

Jedes Jahr widmet sich die Studie einem wichtigen Thema des Schullebens, dieses Jahr unter dem Titel: «Ein Jahr Krieg in der Ukraine – Ein Jahr Situation von Flüchtlingskindern und Jugendlichen aus der Ukraine.»

Schulbesuch im Schloss

Die benachbarte Waadt beherbergt derzeit rund 1200 Schüler:innen aus der Ukraine, im ganzen Kanton sind etwa 94’000 Kinder in Schulen eingeschrieben.

«Im März 2022 erwarteten wir eine grosse, aber zeitlich begrenzte Welle. Die ersten Angekommenen haben klar gesagt, dass sie so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren wollen», sagt Nathalie Jaunin, stellvertretende Direktorin des kantonalen Erziehungsdepartements, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Doch was als vorübergehende Situation gedacht war, dehnte sich bald aus, als sich der Krieg hinzog. «In dieser Situation versuchten immer mehr der von uns aufgenommenen Personen, sich hier einzurichten», sagt Jaunin.

Um einige von ihnen kennenzulernen, lud Serge Martin, der Direktor einer Primar- und Sekundarschule in Aubonne am Genfersee, die SWI-Journalist:innen in seine Schule ein, die sich in einem Schloss aus dem 12. Jahrhundert befindet.

Das Schloss, das mitten in der Stadt liegt, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer Schule umgewandelt. Der Hof ist mit Steinen gepflastert und von mittelalterlichen Gewölben umgeben.

Schule von Aubonne in einem Schloss
Caroline Besson, Rektorin der Schule von Aubonne, begrüsst die Kinder auf einem Schulhof. Dieses Schlossgebäude hat im Laufe von mehr als einem Jahrhundert viele Schülerinnen und Schüler aufgenommen. swissinfo.ch

Die Schule ist seit langem auch die erste Anlaufstelle für eingewanderte Kinder im Kanton. Im vergangenen Jahr hat sie etwa 50 ukrainische Kinder aufgenommen, von denen 30 noch heute da unterrichtet werden.

Diese Videoreportage erzählt von ihren Erfahrungen:

Hohe kognitive Belastung

Eine der ersten Aufgaben der Schule ist es, den Kindern die lokale Amtssprache Französisch beizubringen. Während die Jüngeren direkt in die regulären Klassen integriert werden, erhalten die Teenager zunächst intensiven Sprachunterricht.

«Unser Ziel ist es, dass die Kinder so schnell wie möglich Französisch und die sozialen Regeln lernen. Besonders wichtig ist es auch, ihnen Selbstvertrauen zu geben, indem wir ihnen zeigen, dass wir ihre Fähigkeiten in Mathe, Englisch und anderen Fächern anerkennen. So können sie Fortschritte machen, ohne sich davon beirren zu lassen, dass sie die Sprache der Schule noch nicht beherrschen», sagt Jaunin.

Viele Kinder besuchen auch eine ukrainische Schule – online. «Die Kinder haben viele Hausaufgaben von der ukrainischen Schule, den Schweizer Sprachkursen und dem normalen Unterricht. Diese drei zusammen stellen eine hohe kognitive Belastung dar», sagt Stephan Gerhard Huber, der Studienleiter des Schulbarometers.

In einem Telefoninterview sagt er, dass die Intensität der Belastung die Integration der Kinder zu behindern drohe: Spiel, Unterhaltung, kulturelle und sportliche Aktivitäten kämen dabei zu kurz.

Kulturelle Schaltstellen

Die Integration der Kinder war für die Schulen eine Herausforderung. Einerseits, da sie ihnen die notwendige psychologische und emotionale Unterstützung anbieten mussten und andererseits sicherzustellen hatten, dass sie so schnell wie möglich am regulären Unterricht teilnahmen. Zunächst stützten sie sich auf freiwillige zweisprachige Ukrainer:innen und Russ:innen, die in der Schweiz leben.

Jetzt sind Dolmetscher:innen aus der Gemeinde eine der Schaltstellen zwischen den Kindern, ihren Familien, der Schule und den Behörden. «Die Schulen arbeiten mit verschiedenen Agenturen zusammen, die Dolmetscherdienste anbieten. In der Regel arbeiten Familien und Schulen mit denselben Dolmetschenden zusammen, sobald eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut wurde», sagt Jaunin.

Der Kanton habe das Schulbudget aufgestockt, um zusätzliches Schulmaterial zu kaufen und mehr Lehrpersonen und Dolmetscher:innen einzustellen. Finanzielle Details nannte Jaunin nicht.

Wie über den Krieg sprechen?

Eine weitere Herausforderung für die Schulen ist die Frage, wie man in einem Klassenzimmer über den Krieg in der Ukraine sprechen kann, wenn einige der Kinder Familienmitglieder haben, die dort kämpfen und sie selber davon traumatisiert sind. Weder der Kanton noch das Bildungsministerium haben spezifische Richtlinien dafür herausgegeben.

«Die Schweizer Medien und der Bundesrat verwenden Wörter wie ‹Krieg› und ‹Invasion›, und wir können vor Kindern und Eltern, die alle gut informiert sind, nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre», sagt Studienleiter Huber.

Auf der offiziellen Website des Kantons Waadt wird der Krieg als «Konflikt» und nicht als «Krieg» oder «Invasion» bezeichnet. «Hinter Begriffen wie Invasion oder Konflikt verbirgt sich keine politische Haltung», sagt Jaunin.

«Im Geschichtsunterricht oder bei der politischen Bildung steht es den Lehrpersonen frei, dieses Thema zu thematisieren», fügt sie hinzu. Sie sagt, die Schulbehörden seien «besonders darauf bedacht, ein gutes Schulklima zu schaffen».

Als Beispiel führt Jaunin die landesweiten Sirenenübungen an, die am ersten Mittwoch im Februar im Rahmen der regelmässigen Sicherheitsübungen stattfanden. «Wir waren sehr darauf bedacht, alle Lehrpersonen und Eltern der ukrainischen Schüler:innen zu informieren und ihnen zu sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Wir versuchen zu antizipieren, was für sie traumatisch sein kann.»

Nach Hause gehen

Aufgrund einer möglichen Rückkehr nach Kriegsende sind die Eltern daran interessiert, dass ihre Kinder weiterhin ihre Muttersprache lernen. Dies ist auch ein Anliegen des ukrainischen Bildungsministeriums, da fast die Hälfte aller ukrainischen Kinder, die das Land verlassen haben, derzeit in europäischen Ländern leben.

Bis heute wurden 7,8 Millionen Ukrainer:innen gezwungen, das Land zu verlassen und in Europa Zuflucht zu finden. 90% der Vertriebenen sind Frauen und Kinder.

Das Ministerium hat erklärt, dass «die Regeln für den Bildungsprozess durch die nationale Gesetzgebung des Wohnsitzlandes bestimmt werden» und dass die im Ausland erworbenen Noten anerkannt werden. Damit bleibt die Frage der Muttersprache offen.

Voidiuk, die Mutter von Olexandra, möchte, dass ihre Tochter Ukrainisch lesen und schreiben lernt. Sie bittet um ukrainische Sprachkurse nach der Schulzeit.

«Im Moment gibt es noch keine ukrainischen Sprachkurse, aber diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen. Wir brauchen eine motivierte Gemeinde und die Unterstützung der Botschaft», sagt Jaunin. Schulen könnten mittwochnachmittags und samstags Ukrainisch-Kurse anbieten.

Drei Schulmädchen
Kinder aus Mariupol besuchen jetzt die Schule in Aubonne. swissinfo.ch

Botschaften und Gemeinden organisieren oft Sprachkurse: Dies ist beispielsweise der Fall für Portugiesisch, Spanisch, Chinesisch, Japanisch, Serbisch, Kroatisch, Englisch und Deutsch, die in Schweizer Schulen nach der regulären Schulzeit unterrichtet werden.

«Zwei Drittel der Ukrainer:innen sitzen buchstäblich auf ihren Koffern», sagt Huber und meint damit die Tatsache, dass sie bereit sind, in die Ukraine zurückzukehren, sobald der Krieg vorbei ist.

«Ihnen zu sagen: ‹Gebt euren ukrainischen Unterricht auf›, wäre nicht der richtige Ansatz.»

Schülerinnen und Schüler der Schule in Aubonne
Die ukrainischen Schülerinnen und Schüler der Schule in Aubonne, Yorema, Amir, Marta, Karina und Dariia (von links nach rechts) fühlen sich bereits sicher in der französischen Sprache. swissinfo.ch

In der Schweiz leben etwa 75’000 Ukrainer:innen mit dem Schutzstatus S, der jährlich erneuert wird und den Geflüchteten das Recht auf Unterkunft, Unterstützung und medizinische Versorgung gibt.

Zu den rund 13’000 Eingeschulten kommen etwa 5000 junge Menschen im Alter zwischen 15 und 20 Jahren hinzu. Viele von ihnen haben eine Berufsausbildung begonnen oder werden sie diesen Sommer beginnen.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat am 1. März 2023 beschlossen, dass sie ihre Ausbildung in der Schweiz auf jeden Fall bis zum Abschluss fortsetzen können.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger 

Übertragung aus dem Englischen: Michael Heger

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