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Der natürlichste Fluss der Schweiz

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Die Sense ist in weiten Teilen ihrer 38 km Länge natürlich geblieben. © Eduardo Soteras Jalil/wwf Schweiz

Die Sense in den Kantonen Freiburg und Bern gilt als naturnächster Fluss der Alpen. Auf einem Spaziergang entdecken wir eine der seltenen Gewässerperlen der Schweiz.

Das klare Wasser der Sense fliesst frei. Der Wildfluss mit seinem unberechenbaren Charakter formt verschiedene Lebensräume und Landschaften, breite Kiesbänke und tiefe Sandsteinschluchten. Die Sense beherbergt eine aussergewöhnliche Biodiversität.

Für Herbert Känzig ist die Sense nicht nur fliessendes Wasser. Er kennt sie seit seiner Kindheit. An Wochenenden und Schulferien ging er dort spielen und baden. «Es ist ein besonderer Ort. Die Sense hat sich in all den Jahren kaum verändert», sagt der 75-Jährige.

Ein Mann sitzt auf einem Stein
Herbert Känzig kennt jedes Stück der Sense. Luigi Jorio/swissinfo.ch

Känzig ist ehrenamtlich beim WWF SchweizExterner Link tätig. 2007 ging er in den Ruhestand, seither ist er für die kantonale Sektion Freiburg verantwortlich. «Vielleicht hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich so oft in meinem Leben in einem Flugzeug sass», sagt er und erzählt von seiner früheren Arbeit in einer Fotopapier-Produktionsfirma, die ihn um die Welt führte.

Kalte und warme Sense

Wir treffen Herbert Känzig bei SangernbodenExterner Link in den Berner Voralpen. Wir befinden uns an der «Kalten Sense», dem rechten der beiden Quellflüsse, die gemeinsam einen Fluss bilden. An diesem Sommertag bedeckt das Wasser nur einen Teil des breiten Flussbettes aus Steinen und Kies.

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Der «kalte» Quellfluss der Sense im Kanton Bern. Luigi Jorio/swissinfo.ch

Der Fluss wird nicht von Gletschern gespeist. Die Kalte Sense entspringt direkt aus dem Gantrisch-SeeExterner Link im Kanton Bern, auf 1580 Metern über Meer. «Der kleine See liegt oft im Schatten, und seine Temperatur ist relativ niedrig. Deshalb sprechen wir von der Kalten Sense», erklärt Känzig.

Dem SchwarzseeExterner Link, einer beliebten Touristendestination im Kanton Freiburg auf 1046 Metern über Meer, entspringt die «Warme Sense».

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Der Unterschied zwischen den beiden Flussarmen liegt nicht nur in der Temperatur. Während sich die «Kalte Sense» noch in ihrem ursprünglichen Zustand befindet und auf nationaler Ebene geschützt ist, zeigt die «Warme Sense» deutliche Spuren menschlicher Intervention: eine Reihe von Kunststeinstufen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts gebaut wurden. «Sie galten einst als nützlich, um den Flusslauf zu verlangsamen. Aber der effektivste Weg, die Geschwindigkeit des Wassers zu reduzieren, ist das Platzieren von Steinblöcken im Fluss. Oder dem Gewässer einfach Platz zu lassen, sich auszubreiten», sagt Känzig.

Diese Dämme sind nicht nur obsolet, sondern insbesondere für kleinere Fische ein Hindernis. «Vor hundert Jahren gab es noch Lachse, die den Fluss hinauf zum Schwarzsee schwammen», bemerkt Känzig bedauernd. Laut WWF sollten die Dämme entfernt werden. Känzig sagt, es würde genügen, in der Mitte eine Bresche zu machen oder die Dämme nicht mehr instandzuhalten, so dass die Kraft des Flusses den Rest erledigt.

Künstliche Steinstufe im Fluss
Künstliche Stufe in der Kalten Sense. Luigi Jorio/swissinfo.ch

Der natürlichste Fluss der Nordalpen

Ab der Verbindung der beiden Flusszweige beim ZollhausExterner Link, fliesst die Sense geschützt durch eine dichte Vegetation. Ein prachtvolles Auengebiet bietet zahlreichen geschützten Vogelarten, Reptilien und Wasserpflanzen einen idealen Lebensraum.

Von einer Brücke aus beobachten wir den letzten Flussabschnitt, der von der Strasse aus leicht zugänglich ist. Dann fliesst der Fluss in ein enges Tal, das von steilen Felswänden umgeben ist. Das ist die Senseschlucht, 15 Kilometer unberührte Natur. «Es ist der wertvollste Teil des Flusses», betont Känzig.

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Die Sense vor dem Abschnitt mit den Schluchten. Luigi Jorio/swissinfo.ch

«Die SenseExterner Link ist ein in der Schweiz einzigartiger Fluss», erklärt uns Lene Petersen, Leiterin des GewässerschutzprogrammsExterner Link von WWF Schweiz. «Über weite Strecken gibt es keine Böschungen oder Hindernisse. Bei Hochwasser kann der Fluss selbst Platz finden, indem er sich ausbreitet und von Zeit zu Zeit sein Bett wechselt. Es entstehen Flächen, auf denen sich eine neue Vegetation entwickeln kann.»

Sense

Länge: 38 km

Höhenunterschied: 1100 m

Durchschnittlicher Durchfluss im letzten Abschnitt: 9 m3/s

Gebiet: Kantone Bern und Freiburg

Fluvialsystem: Sense → Saane → Aare → Rhein → Nordsee

Ein weiterer wesentlicher Aspekt für den WWF ist das Fehlen von Wasserkraftwerken. In der Schweiz werden rund 55% des Stroms mit Wasserkraft erzeugt. «Es gibt praktisch keinen Fluss in der Schweiz, der nicht für die Produktion von Wasserkraft genutzt wird. Wir haben den Sättigungspunkt erreicht», sagt Petersen.

Im Gegensatz zum Bundesamt für EnergieExterner Link, das es für möglich hält, die Wasserkraftproduktion mit kleinen Kraftwerken zu erhöhen, hält der WWF kleine Kraftwerke für doppelt nachteilig. «Finanziell sind sie nicht profitabel. Und vor allem greifen sie künstlich in den Stromverlauf des Flusses ein, was seine Ökologie beeinträchtigt», sagt Petersen.

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Die Sense ist einer der wenigen Flüsse in der Schweiz, die nicht zur Stromerzeugung genutzt werden. © Eduardo Soteras Jalil/wwf Schweiz

Das Fehlen von Wasserentnahmen für die Energieerzeugung und Bewässerung, die morphologische Vielfalt, die natürliche Dynamik und die Qualität des Wassers machen die Sense zum «wilden Fluss par excellence der Schweiz», so der WWF, der sie zu den GewässerperlenExterner Link des Landes zählt.

In einer internationalen StudieExterner Link von WWF Deutschland erhielt die Sense die höchste Punktzahl. «Es ist der natürlichste Fluss der nördlichen Alpen», sind sich die Experten einig.

Gewässerperlen der Schweiz

Der WWF definiert GewässerperlenExterner Link als weitgehend natürliche Flüsse, die von der Quelle bis zur Mündung ohne künstliche Dämme auskommen, nicht vom Menschen genutzt werden und durch Lebensräume von hohem ökologischen Wert gekennzeichnet sind.

In der Schweiz hat der WWF 64 Flüsse identifiziert, welche diese Merkmale erfüllen – zumindest auf einigen Abschnitten der insgesamt tausend Kilometer. Dies entspricht 5% des hydrographischen Netzes des Landes.

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Wir treffen wieder auf die Sense 15 km flussabwärts, am Ausgang der Schlucht. Herbert Känzig möchte uns ein weiteres Kapitel in der Geschichte der Sense und der Bemühungen um deren Erhaltung erzählen.

Von Granaten zu Liegestühlen

Wir befinden uns in der Nähe des Dorfes SchwarzenburgExterner Link, auf einem ehemaligen Schiessplatz der Schweizer Armee. Wo sich jetzt ein Mann auf einem Liegestuhl sonnt, feuerte früher das Militär Granaten und Munition ab. Die Armee muss das Gebiet nun komplett säubern. Anschliessend müssen die kantonalen Behörden das Gebiet renaturieren.

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Luigi Jorio/swissinfo.ch

Der grosse Platz in der Schwemmzone, auf dem einst Militärfahrzeuge standen, ist heute ein Parkplatz. Für Umweltschützer liegt er zu nah am Fluss. Der Vorschlag, ihn zu schliessen, hat jedoch die Bevölkerung aufbegehren lassen.

«Es gab eine Petition, die von 15’000 Menschen unterzeichnet wurde. Nach jahrelangen Verhandlungen konnten wir einen Kompromiss finden», erklärt Känzig. Nach Abschluss der Sanierung wird ein kleinerer Parkplatz weiterhin zugänglich sein, allerdings nur wenige Sonntage im Jahr.

Es sei ein grosses Dilemma für den WWF, sagt Känzig. Der Fluss ist einerseits ein Erholungsgebiet, in dem man sich im Kontakt mit der Natur regenerieren kann und der deshalb zugänglich sein muss. Andererseits muss die Sense aber auch geschützt werden. «Wir müssen das richtige Gleichgewicht finden.»

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Luigi Jorio/swissinfo.ch

Erhaltung der letzten Flusslandschaften

Wir verlassen den ehemaligen Schiessplatz und fahren weiter zu dem Flussabschnitt, den Känzig für den «unschönsten» hält. Im Gebiet ab ThörishausExterner Link gibt es entlang der Sense Häuser, Industrien und landwirtschaftliche Flächen. Vor allem fliesst der Fluss zwischen vor hundert Jahren errichteten Steindämmen.

An dieser Stelle ist die Sense etwa zwanzig Meter breit. Gemäss Gesetz sollten es mindestens hundert Meter sein, wie Känzig betont. «Die Verlegung der Häuser ist offensichtlich unmöglich. Aber es könnte dem Fluss ausserhalb der bebauten Gebiete mehr Raum gegeben werden.» Zusammen mit den kantonalen Behörden sucht WWF den Dialog mit den Bauern und bietet eine finanzielle Kompensation für die geopferten Flächen an.

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Die Sense im Gebiet von Thörishaus. Luigi Jorio/swissinfo.ch
Dämme
Dämme entlang der Sense. Luigi Jorio/swissinfo.ch

Der WWF erkennt an, dass «die Schweiz beim Gewässerschutz Fortschritte gemacht hat». In den kommenden Jahrzehnten wird erwartet, dass viele Flüsse durch RevitalisierungsmassnahmenExterner Link aufgewertet werden. Dennoch müsse mehr getan werden, um die letzten Flusslandschaften zu erhalten, betont Lene Petersen. «In der Schweiz gibt es kaum Abfälle, die in Flüssen schwimmen. Aber es gibt unsichtbare Verschmutzungen, die bekämpft werden müssen. Ich denke an Pestizide, Düngemittel, Medikamentenrückstände oder Mikrokunststoffe.»

Von den Schweizer Voralpen bis in den Norden Europas

Die letzte Etappe der Erkundung führt uns nach LaupenExterner Link, etwa 15 km von Bern entfernt, wo die Sense in die Saane mündet, der Fluss, der die französischsprachigen und deutschsprachigen Gebiete der Schweiz teilt.

Im letzten Abschnitt kann das Wasser 25 Grad erreichen. Eine ideale Temperatur für Badegäste, aber nicht für Forellen. «Ihr Überleben ist in Gefahr», sagt Känzig und betont die Bedeutung des Schutzes dieses wichtigen Ökosystems. Das Ziel sei es, «sicherzustellen, dass die verschlechterten Bereiche der Sense verbessert werden und dass intakte Bereiche intakt bleiben.»

Hier endet der Lauf der Sense. Das Wasser der Sense hingegen steht erst am Anfang seines Weges. Von der Saane aus gelangt das Wasser in die Aare und dann in den Rhein. Nach der Durchquerung halb Europas mündet dieser Fluss in der Nordsee.

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Einmündung der Sense bei Laupen (Bern). Luigi Jorio/swissinfo.ch

80% der Schweizer Flüsse gefährdet

Rund 80% der Gewässer in der Schweiz weisen nach Angaben des WWF zum Teil erhebliche ökologische Defizite auf. In der Schweiz seien intakte Flusslandschaften zu einer Seltenheit geworden.

Flüsse und Bäche werden verschmutzt, begradigt, gestaut und für die Stromerzeugung genutzt. Eine «traurige Entwicklung» für die Biodiversität, da mehr als die Hälfte der Schweizer Tier- und Pflanzenarten in oder in der Nähe von Gewässern leben, schreibt die UmweltschutzorganisationExterner Link. 60% der Fisch- und Wasserpflanzenarten stehen auf der Roten Liste.

(Übertragung aus dem Italienischen: Sibilla Bondolfi)

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