Die Souvenirs von Boris Mange, Schweizer aus Sibirien
Seine Vorfahren waren 1824 als Winzer nach Russland ausgewandert. Bis die Familie 1933 vor Stalin und der Hungersnot in die Schweiz flüchten musste, verbrachte Boris Mange die ersten Lebensjahre in Sibirien. Seit 1953 lebt der Waadtländer in Kanada.
«Als ich ein Schüler war, forderte mich der Lehrer in Lausanne auf, von meinem Leben unter dem Herrschaftsregime Stalins zu erzählen. Ich schrieb über unsere Armut und den Hunger, und dass wir zum Glück ein Heimatland hatten, nämlich die Schweiz», hält Boris Mange in seinen Memoiren fest, die er in Vancouver verfasst hat, wo er seit mehr als 50 Jahren lebt.
«Der Lehrer wollte wissen, ob ich denn Beweise hätte, weil er glaubte, ich hätte meine Geschichten erfunden. Nach der Ära von Michael Gorbatschow wurde ich gefragt, weshalb ich die Leiden meiner Familie nicht aufgeschrieben hätte. Ich hatte ja davon erzählt, aber niemand glaubte mir.»
Bauernhof und Rapsmühle
Die Familie Mange stammt aus Rougemont in den Waadtländer Alpen. Ein Zweig der Familie wanderte 1824 ins zaristische Russland aus. Wie Hunderte anderer Waadtländer Familien, die im 19. Jahrhundert nach den Kriegen Napoleons vor der Hungersnot ins Exil flüchteten, zog auch ein gewisser Samuel Mange aus dem Waadtland in die Schweizer Kolonie von Chabag in der Nähe von Odessa ans Schwarze Meer.
Spuren finden sich auch ein paar Jahrzehnte später von dessen Sohn Edouard in Sarata, einer deutschen Kolonie, die sich in der gleichen Region namens Bessarabien befindet. Edouard starb 1916 an Tuberkulose. Sein Sohn Wladimir, der den Schweizer Pass behalten konnte, wanderte nach Sibirien aus, zuerst nach Isilkul und später nach Ekaterinovka, wo er einen Bauernhof und eine Rapsmühle kaufte.
Boris Mange kann sich heute noch an die Kühe, Pferde, Hühner und Gänse seiner Grosseltern erinnern. «Ich weiss noch, dass ein Jäger einen Wolf geschossen hatte, dessen grosse Zähne mich erschreckten. Als Stalin 1929 definitiv an die Macht kam, brach unsere Existenz zusammen. Tausende Familien aus der Region wurden in die Minen und Arbeitslager im Norden und Osten Sibiriens deportiert.»
Die Familie Mange flüchtete mit ihren vier Söhnen nach Kustanai (es liegt im heutigen Kasachstan), der Herkunftsstadt von Boris Mutter. Der Vater, er litt an starker Tuberkulose, und die Grossmutter durften die Sowjetunion verlassen und nach Lausanne ziehen, in die Heimatstadt ihrer Vorfahren. «Als meine Mutter dann vom Tod ihres Mannes in der Schweiz erfuhr, weinte sie tagelang, ohne dass wir wussten, weshalb. Sie durfte es uns nicht sagen. Wenn die sowjetischen Behörden vom Tod des Vaters erfahren hätten, hätten wir später keine Ausreisebewilligung erhalten. «
Kannibalismus
Unter Stalin starben Millionen Menschen an Hunger: «In Kustanai, einer grossen Getreide-Region, wurden die Ernten konfisziert für die Versorgung der industriellen Städte.
Wir sammelten Holz, das in den Flüssen trieb oder von verlassenen Häusern. Licht gab es von Petroleumlampen oder Kerzen. Und stets war man auf der Suche nach Nahrung. In den Läden gab es kaum etwas zu kaufen, die Regale waren leer. Oft lasen wir Ähren auf, die von den Güterzügen gefallen waren.
«Wir assen wilde Früchte, Kräuter und Brot, das aus einer Mischung von Getreide- und Sägemehl gemacht war und uns den Darm aufkratzte. Zum Glück gab es die Pakete des Roten Kreuzes, die uns die Grossmutter aus der Schweiz schickte: Käse, Schinken, Schokolade. ….
Es gab sogar Fälle von Kannibalismus. Unsere Mutter befahl, dass wir uns Fremden nicht nähern sollten,» erzählt Boris Mange in seinem Buch.
Souvenirs aus Kanada
Im August 1933 erhielt die Mutter endlich die Erlaubnis, mit ihren vier Söhnen die UdSSR zu verlassen, um nach Lausanne zu reisen. Dort lernte Boris Mange später das Juweliershandwerk, absolvierte den Militärdienst bei der Fliegerabwehr, ohne den Kontakt mit der russischen Lebensgemeinschaft abzubrechen. In Montreux lernte er seine künftige Frau Ursula kennen, mit der er 1955 nach Kanada auswanderte.
Boris Mange ist heute 84 jährig. Mit seiner Frau und seinen Kindern Mike und Jocelyne betreibt er in Vancouver eine Fabrik mit rund 60 Mitarbeitenden. Die Unternehmung namens Panabo stellt Souvenir-Artikel für die nächsten Olympischen Winterspiele 2010 her: Krawatten, Halstücher, Teelöffel und anderen Krimskrams.
swissinfo, Olivier Grivat
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
«A Long, Long Way», A Life in Siberia, Switzerland and Canada, par Boris Mange, Ed. Tribute Books, www.tributebooks.ca
Im Juli 1822 verlassen ein halbes Dutzend Waadtländer Winzer mit ihren Familien auf Pferdekarren Vevey und ziehen in die Region von Odessa ans schwarze Meer. Louis-Vincent Tardent, ein Botaniker aus Ormond, führt die Wagenkolonne an.
Drei Monate brauchen sie, um den Bezirk zu erreichen, der ihnen vom Zaren Alexander II zugestanden wurde. Mehrere Dutzend andere Familie folgen später auf der gleichen Route. Die Emigranten aus der Schweiz pflanzen Reben und produzieren einen Wein, der durch den russischen Dichter Alexander Puschkin berühmt geworden war.
Die Kolonie namens Chabag (türkisch: unterer Garten) wächst stetig bis zum Ersten Weltkrieg, als die gesamte Region Bessarabien dem Rumänischen Königreich unterstellt wird. Generationen von Schweizer Siedlern gehen daraus hervor, deren Muttersprache russisch und später rumänisch ist.
Während des Zweiten Weltkriegs zwingt die Rote Armee die Schweizer zur Rückkehr in die Schweiz. Heute leben nur noch ganz wenige Familien mit Schweizer Wurzeln in dem Dorf, das heute Chabo heisst.
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