Vor 150 Jahren wurde Ernährungsreformer Bircher geboren
Eine beispiellose Schweizer Erfolgsgeschichte – das Birchermüesli ist wohl das einzige Rezept, das es aus dem Alpenland in die Küchen der Welt geschafft hat. Dessen "Erfinder", der Arzt und Ernährungsreformer Maximilian Bircher-Benner, wurde vor 150 Jahren in Aarau geboren.
Im Jahre 1909 litt der Schriftsteller Thomas Mann, München, unter gastritischen Beschwerden. Er schrieb deshalb an seinen Bruder Heinrich: «Mit mir steht es auch nicht zum Besten, und darum habe ich mich entschlossen, auf 3 bis 4 Wochen der Welt und allem Wohlleben Valet zu sagen und zu Bircher-Benner nach Zürich zu gehen, … dessen Erfolge jetzt sehr gerühmt werden.» Ziel war das Sanatorium «Lebendige Kraft», das der Mediziner, Ernährungsreformer und Seelenarzt Maximilian Bircher-Benner seit dem Jahre 1904 mit wachsendem Zuspruch betrieb.
Die «Ordnungstherapie», die Bircher-Benner seinen Patienten auf dem Zürichberg verordnete, schmeckte dem aufstrebenden Literaten und künftigen Literatur-Nobelpreisträger allerdings gar nicht. Der Geistesmensch Thomas Mann beklagte, dass er «um 6 Uhr aufstehen, um 9 Uhr das Licht löschen und den Tag unter Luft- und Sonnenbädern, Wasserbädern und Gartenarbeit verbringen» müsse: «Das ist hart, zu Anfang und während der ersten fünf Tage stand ich beständig mit trotzigen Entschlüssen ringend vor meinem Koffer.»
Das Sanatorium mit seinen starren Regeln körperlicher und seelischer Ertüchtigung erschien ihm wie ein «hygienisches Zuchthaus», in dem er sich wie ein «Gras fressender Nebukadnezar» fühle, «der im Luftbade auf allen Vieren geht».
Seine «störrische Verdauung», die ihn hergebracht hatte, aber ward in den vier Wochen seines Aufenthalts gelindert und «besserte sich dann ins Erstaunliche, nie Dagewesene». Den Heilerfolg nahm Thomas Mann aus Zürich ebenso mit wie die beeindruckende Begegnung mit einem Mitpatienten, dem Mailänder Publizisten Paolo Enrico Zendrini; angeblich ihm hat er im «Zauberberg» den «freien Schriftsteller» Lodovico Settembrini nachempfunden.
Der Promi-Arzt
Das Sanatorium «Lebendige Kraft» und das dort exekutierte Therapie-Konzept waren damals der Renner bei kranken oder kränkelnden Grossbürgern. Und Anstaltsleiter Bircher-Benner, der später auch den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, die Pianistin Elly Ney oder den König von Siam behandelte, avancierte zur Berühmtheit und ersten Adresse aller, deren Magen revoltierte, oder deren Darm verstopft war.
Heute vor 150 Jahren als Sohn eines Notars in Aarau geboren, absolvierte Bircher-Benner ein Medizinstudium in Zürich und Berlin und liess sich am 1. Dezember 1891 als junger Arzt im Industriequartier Zürich-Aussersihl nieder.
Erlebte er dort, bei seinen Patienten aus den verarmten Schichten, noch Not und zehrende Unterernährung, so traten ihm in seinem Sanatorium, das er 1904 mit den Geldern von Ehefrau Elisabeth Benner in der Keltenstrasse 8 einrichtete, Menschen mit Übersättigung entgegen – sie hatten mit Fleisch und Fett, kräftigen Saucen, scharfen Gewürzen, mit Kaffee, Alkohol und Rauchwaren ihre Körper malträtiert. Zu viel, zu viel! All dieses Teufelszeug stand im Sanatorium «Lebendige Kraft» auf der Giftliste.
In Bircher-Benners Augen litten die Menschen des angehenden 20. Jahrhunderts unter der Zivilisationskrankheit einer unordentlichen Lebensführung – deshalb mahnte er stählerne Disziplin im Anstaltsalltag an.
Das schloss Bogenlichtbäder, Massagen, kalte Güsse, Luftkuren, aber auch das langsame Kauen bei Tisch und das Einspeicheln der Speisen mit ein, von dem Gebot gar nicht zu reden, während der Mahlzeiten über den eigenen Gesundheitszustand zu schweigen. Positiv denken, so hiess die eine Devise des Gesundheits-Gurus Bircher-Benner. Zurück zu den Wurzeln nahrhafter Kost, die andere.
«Das ist hart, zu Anfang und während der ersten fünf Tage stand ich beständig mit trotzigen Entschlüssen ringend vor meinem Koffer.»
Thomas Mann über Bircher-Benners «Ordnungstherapie»
Dazu hatte er eine Rohkost-Diät entwickelt (und erfolgreich im Selbstversuch getestet, als er einmal Gelbsucht bekam), die den damals geltenden Vorstellungen einer reichhaltigen Ernährung diametral widersprach.
Die Grundlage bildete seine These, dass nicht der Nährwert eines Nahrungsmittels, nicht die Fette, Proteine und Kohlenhydrate seine Qualität ausmachten, sondern die in ihm gespeicherte Sonnenenergie.
Nicht Fleisch, Eier und Käse galten ihm als Elemente gesunder Ernährung, sondern pflanzliche Rohkost, namentlich Grünzeug – weil es von der Sonne direkt mit Lebenskraft gespeist worden sei. «Lichtnahrung» nannte er das.
Die Älpler-Kost
Gerne erinnerte sich Bircher-Benner dabei an die Essgewohnheiten der Hirten und Älpler aus alten Zeiten. Er schrieb: «Ihre tägliche Ernährung war sehr einfach und bestand oft aus einem Gericht, das die ganze Mahlzeit ausmachte. … Zur täglichen Nahrung gehörten vor allem: Getreidebrei (Hafer, Hirse, Gerste), Kraut (besonders Mangold und Kohl), Rüben und Wurzelgemüse, Bohnen, Milch (frische und eingedickte) und Obst (frisch und gedörrt). Fleisch kam gelegentlich auf den Tisch, wenn ein altes Haustier abgetan werden musste und wenn man Jagdbeute heimbrachte. Dies war jedoch ein eher seltenes Ereignis.»
In diesem Sinne waren auch im Sanatorium «Lebendige Kraft» die Mahlzeiten eher frugal gehalten; Fleisch und Fettreiches und Fritiertes fehlte ganz. Die bürgerliche Welt von Wurst und Speck und Schweinebauch, wo Vater am Sonntag das erste Stück vom saftigen Braten zustand, blieb aussen vor. Das Bircher-Müesli, das den Ruf Bircher-Benners in die Welt hinaustragen sollte, aber war das Mass aller Dinge und wurde morgens und abends serviert, zusammen mit Vollkornbrot, Butter und Kräutertee.
«D’Spys», wie Bircher-Benner seinen Ernährungshit schlicht nannte, bestand aus einem gestrichenen Esslöffel Haferflocken (höchstens! 12 Stunden vorgeweicht in drei Esslöffeln Wasser), dem Saft einer halben Zitrone und einem Esslöffel gezuckerter Kondensmilch. Den Hauptbestandteil aber bildeten 2 bis 3 kleine Äpfel mit Haut und Kerngehäuse, geraffelt, und darüber gestreut ein Löffelchen Nüsse. Fertig. Bircher-Benner verwies mit Stolz darauf, dass dieses Mahl so gut und bekömmlich und ausgewogen sei wie Muttermilch.
Die Rohkost-Verachter
Die etablierte Ärzteschaft reagierte auf solch strenge Ess-Dogmen, über die Bircher-Benner auch fleissig publizierte, pikiert. Sie sah das menschliche Vertrauen vor allem in den Kraftspender Fleisch nachhaltig erschüttert.
Dies führte schon im Jahre 1900 dazu, dass der Ernährungsrevolutionär Bircher-Benner von der mächtigen Zürcher Ärztegesellschaft im Zunfthaus zur Saffran ins Kreuzverhör genommen und anschliessend aus ihrer Mitte verbannt wurde. Auch der damalige Präsident des Bauernverbandes, Ernst Laur, polterte: «Wer Fleisch und Käse für gesunde Menschen auf den Index setzt, ist unser Gegner. Den bekämpfen wir und paktieren nicht mit ihm!»
Der Gesundheits-Apostel
Bircher-Benner war in Wahrheit der erste überhaupt, der die Beziehung zwischen Ernährung und Gesundheit unter die Lupe nahm; aber er blickte auch über den Tellerrand hinaus und nahm die Lebensführung seiner Patienten in den (ganzheitlichen) Blick. Zu seinen ärztlichen Bemühungen zählten einfühlsame, an der aufkommenden Psychotherapie geschulte Gespräche, in denen er die Gefühlslage der Kranken durchmusterte.
«Die derzeitige Ernährung zerstört wie ein schleichendes Gift die körperliche und seelische Gesundheit. (…) Die Ungesundheit ist ins Schweizerhaus eingezogen.»
Maximilian Bircher-Benner
Und er gab Hinweise, es doch einmal mit dem zu versuchen, was die Menschen heutzutage ins Fitness-Studio treibt – die Lust an der Bewegung. Für Bircher-Benner, der gerne im Anzug, aber in Gesundheitssandalen (ohne Strümpfe) über seine Therapiestätte schritt, gehörte auch mal ein Tänzchen barfuss im nassen Gras dazu.
Seine Patienten, darunter Thomas Mann, profitierten offenbar von dieser Radikalkur, auch wenn sie nichts zwischen die Zähne bekamen und sich bisweilen durch die Natur gescheucht sahen. Bircher-Benner war ein Gesundheitsapostel der ersten Stunde, der den Menschen in die Pflicht nehmen wollte, für Körper und Seele in Eigenverantwortung Gutes zu tun.
Zwei Jahrzehnte später, Anfang der 1930er-Jahre, stellte er freilich in einem Vortrag mit dem Titel «Die Gesundheit im Schweizerhaus der Gegenwart» eher resigniert fest, dass das Gros der Menschheit nicht auf ihn hören wollte.
«Die derzeitige Ernährung zerstört wie ein schleichendes Gift die körperliche und seelische Gesundheit … Als zuverlässiges Zeichen herrschen in unserem Volke, wie in allen zivilisierten Nationen, Gebisszerfall, Darmträgheit, Rheuma, Magen-, Darm- und Leberleiden, Herz- und Gefässkrankheiten, Drüsenstörungen, Fortpflanzungsstörungen, seelische Verstimmungen und Nervosität. In der Krebssterblichkeit übertreffen wir viele andere Nationen. Die Ungesundheit ist ins Schweizerhaus eingezogen.»
Und da ist sie bis heute auch nicht wieder ausgezogen. Mit dem Unterschied: Heute werden die Armen immer dicker, und die Reichen quälen sich durch ihre Fitnessprogramme, um ihre Bodymasse zu optimieren. Der Dickdarm aber ist immer noch nicht wirklich frei.
Der Müesli-Boom
1939 ist Bircher-Benner an einem Herzinfarkt gestorben. Er hinterliess drei Dinge. Erstens: Eine Mahnung an den Ärztestand, die bis heute ihre Gültigkeit hat: «Der Arzt, wie ich ihn sehe, hat es nicht nur mit dem Magen, der Leber, dem Herzen usw. zu tun, sondern mit dem Menschen, der krank zu ihm kommt, mit seiner Charakterbildung, seiner Unreife, seiner verfehlten Beziehung zum Körper, zur Seele, zu sich, zur Umwelt…» Habe der Arzt nicht auch die Seelenlage seines Patienten auf dem Radar, drohe er zum blossen Mediziner zu «entarten».
Zweitens: Ein Sanatorium, das sich, unter Mitarbeit dreier seiner Söhne, weiter der Ernährungskunde widmete und erst 1994 mangels Auslastung geschlossen wurde; heute hat dort das «Zurich Development Center» der Zurich Versicherung seinen Sitz.
Und drittens: «D’Spys». Denn wenn die Welt auch die Lehren des Maximilian Bircher-Benner nicht so radikal beherzigen will, wie er das vorgeschlagen hat, so ist doch eines in aller Munde geblieben: sein «Müesli», das sich unter dem Namen Müsli, Musli oder auch Musly weltweiten Zuspruchs erfreut. Auch wenn es, entgegen der Originalrezeptur, heute gerne mit Honig oder Schlagsahne oder Fruchtsalat oder Kokosraspeln versetzt wird, so bleibt es doch eine Schweizer Pioniertat im Ernährungswesen.
Erschienen in der Basler Zeitung am 22.8.2017Externer Link
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