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Ein Feminismus ohne Militanz

Die Polizei versucht am 14. Juni 1991 ein Sit-In vor dem Parlamentsgebäude in Bern aufzulösen. An jenem Tag hatten eine halbe Million Frauen einen Frauenstreik durchgeführt. Ein Kampfmittel. Mit dem sich die jungen Tessinerinnen nicht mehr gross identifizieren. RDB

Ist der internationale Tag der Frau noch nötig? Für eine Gruppe von Gymnasiastinnen im Tessin ist die Antwort klar: Der Frauentag ist ein kommerzieller Anlass geworden, um sich ein reines Gewissen zu verschaffen. Für die jungen Frauen findet die Gleichstellung an anderen Orten statt: In der Paarbeziehung und am Arbeitsplatz.

«Jedes Jahr schenkt ein Klassenkamerad allen Mädchen in der Klasse zum Frauentag eine Mimose. Das ist eine schöne, aber auch ein wenig lächerliche Geste», findet Giulia.

«Am 8.März treten die Männer wie zarte Lämmer auf und behandeln uns wie Prinzessinnen, doch während des restlichen Jahres vergessen sie gerne unsere Rechte…»

Wir befinden uns am Gymnasium von Mendrisio im Kanton Tessin. Ein Dutzend junger Frauen zwischen 16 und 18 Jahren hat den Vorschlag von swissinfo.ch akzeptiert, gemeinsam über den Frauentag zu debattieren; über Rechte von Frauen, über Träume und Erwartungen.

«Der 8.März sollte eine Möglichkeit darstellen, über die wirklichen Probleme der Frauen in der Schweiz und in der Welt zu sprechen. Hingegen hat sich dieser Tag in einen kommerziellen Anlass verwandelt, an dem niemand mehr über die grundsätzlichen Fragen debattiert», heisst es.

Die wahren Themen sollten sein: Lohngleichheit und Gleichstellung in der Paarbeziehung, aber auch die Freiheit der Frauen, sich als solche fühlen zu dürfen.

Seid Ihr Feministinnen? «Ja, aber mit einer gewissen Zurückhaltung», antworten sie. «Feministinnen machen den Männern Angst. Und wir wollen mit den Männern sprechen, und so jeden Tag daran arbeiten, um eine bestimmte Mentalität zu verändern.»

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Hartnäckige Klischees der Geschlechterrollen

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Inakzeptable Lohnungleichheit

Die jungen Frauen haben den Eindruck, dass sie in der Schule genau gleich behandelt werden wie ihre männlichen Kollegen. Auch in der Familie sei die Gleichstellung weitgehend garantiert. Mit kleinen Ausnahmen, etwa wenn es um den abendlichen Ausgang geht oder um Fragen in Verbindung mit der Sexualität.

«Wir nehmen die Probleme der Frauen eigentlich mehr durch die Brille unserer Mütter wahr, durch ihre Erfahrungen in Beruf und Familie», erzählt Chiara, ein junges Mädchen mit wachem Blick und lockigem Wuschelkopf.

Es ist einen Moment lang still im Raum. Denn erzählt Alexia: «Meine Mutter arbeitete in einer Uhrenfabrik. Und ich erinnere mich daran, dass sie zehn Prozent weniger verdiente als ihre männlichen Kollegen. Ich konnte es nicht glauben und fragte sie nach den Gründen. Sie sagte mir: Das ist überall so.»

Für Valentina, die einzige Gymnasiastin in der Runde mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, geht es nicht nur um einen gerechten Lohn: «Die Männer sitzen immer auf den Chefsesseln. Im Betrieb meines Vaters gab es fünf Vizedirektoren, darunter nur eine Frau. Die Sekretärinnen waren natürlich alle Frauen. Für mich bedeutet Gleichheit auch, gleiche Rechte und Chancen zu haben. Wie erklärt sich diese Art von Diskriminierung?»

Die Schweizer Frauen erhielten das Stimmrecht auf eidgenössischer Ebene 1971. Die Gleichstellung wurde 1981 in der Verfassung verankert.

Im Bildungssektor ist die Gleichstellung weit gediehen. Die Wahl der Berufe und Studienfächer ist aber immer noch durch grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern geprägt.

 

2011 betrug der Anteil der berufstätigen Frauen 76,7%, jener der Männer 88,7%; 6 von 10 Frauen arbeiteten Teilzeit.

2010 verdienten die Frauen in der Privatwirtschaft im Schnitt 18,4% weniger als die Männer. Im öffentlichen Sektor betrug der Unterschied 12%.

Laut dem Eidg. Büro für Gleichstellung gehen 40% der Unterschiede auf rein diskriminierende Faktoren zurück.

2010 verdienten nur 15,4% der Vollzeit-arbeitenden Frauen mehr als 8000 Franken (beide Sektoren).

(Quellen: Bundesamt für Statistik und Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann)

Unabhängigkeit als Wert

Mit grosser Wahrscheinlichkeit werden diese jungen Frauen erst in einigen Jahren in die Arbeitswelt integriert sein. Viele träumen von einer akademischen Karriere, vor allem im Bereich der literarischen Wissenschaften. Wieso gerade in diesen Fächern? Frauen seien einfach für bestimmte Fachgebiete besser geeignet. Die jungen Frauen sagen dies ganz offen und verteidigen zugleich die Unabhängigkeit als nicht verhandelbaren Wert.

«Eine Frau sollte nie von ihrem Mann abhängig sein, auch wenn eine Beziehung stabil ist. Man weiss ja nie….», gibt Alexia zu Bedenken. Ihre Eltern sind geschieden – wie bei vielen ihrer Kolleginnen.

«Ich würde gerne eine Familie gründen und Kinder haben, aber auch berufstätig sein. Es erscheint mir unlogisch, bis zum 30.Lebensjahr zu studieren und dann plötzlich nur mit den Kindern zu Hause zu sitzen. Natürlich akzeptiere ich es, wenn jemand eine andere Wahl trifft.»

Die Rolle als Hausfrau und Mutter muss für diese Frauen eine freie Wahl sein und kein Zwang. «Ich verstehe nicht, warum die Verantwortung für die Kindererziehung einzig den Frauen obliegen sollte. Kinder macht man doch zu zweit, oder täusche ich mich?» fragt Giulia ironisch.

«Meine Mutter hat ihre Berufstätigkeit aufgegeben, als ich klein war, damit sie sich ganz um mich kümmern konnte. Heute frage ich mich, ob das wirklich ihre freie Wahl oder einfach eine Bequemlichkeitslösung war.»

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Saffa 1958: Zur Rolle der Schweizerin

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Ausstellung wurde von den grossen nationalen Frauen-Organisationen und Vereinen organisiert und stand unter dem Motto «Lebenskreis der Frau in Familie, Beruf und Staat». Ganz dem traditionellen Frauenbild der 1950er-Jahre verpflichtet, propagierte die Schau ein Lebensmodell in drei Phasen: Berufsausbildung und Erwerbstätigkeit bis zur Heirat, Mutterschaft und Hausfrauendasein, Wiederaufnahme des Berufs. Im Vorfeld der ersten…

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Mehr Arbeit zu Lasten der Frau

Die Diskussion spiegelt eine gewisse Frustration. «Die Gesellschaft überträgt den Müttern die Aufgabe, Kinder zu erziehen. Das stellt eine grosse Belastung dar. Denn Frauen, die nach ihrer Mutterschaft weiterhin berufstätig sind, werden schief angeschaut und als Rabenmütter bezeichnet», betont Chiara.

Giulia ist der Ansicht, dass sich auch die Väter zumindest in Teilzeit um die Kinder kümmern sollten. Kinder sollten nicht einfach zu einer Tagesmutter oder in die Kinderkrippe abgeschoben werden.

Eine gerechtere Verteilung der Aufgaben in der Familie stösst sich im konservativen und wenig urbanen Tessin aber immer noch mit der traditionellen Rollenverteilung. «Ein Vater, der zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert? Die Idee ist nett, aber irgendwie auch merkwürdig, weil wir uns dies nicht gewohnt sind», sagt Giulia.

Sie erzählt, dass sie ihrem Freund gerade das Kochen beibringt. «Selbst bei Paaren mit hohen Gleichstellungsansprüchen übernimmt die Frau meist mehr Verantwortung im Haushalt. Nur wenige Männer putzen, waschen oder bügeln.»

Für die jungen Diskussionsteilnehmerinnen bedeutet Gleichstellung, gleiche Rechte und gleiche Chancen wie Männer zu haben. Zu den Rechten gehört auch das Recht, über den eigenen Körper bestimmen zu können. «In der Schweiz haben die Frauen das Recht auf Abtreibung erkämpft, aber unsere Sexualität wird immer noch anders beurteilt als die Sexualität der Männer», sagt Giulia.

Und sie fährt fort: «Wenn ein Mädchen eine Reihe von sexuellen Erfahrungen sammelt, wird sie schief angeschaut; junge Männer werden hingegen als Helden gefeiert. Wir müssen immer noch mit sexistischen Sprüchen und Kommentaren leben, ob auf der Strasse, in der Diskothek oder in der Schule. Das ist manchmal schon demütigend. Wir werden zu Objekten degradiert.»

1909 erklären amerikanische Frauenrechtlerinnen den 28. Februar zum «nationalen Tag der Frauen».

1910 ruft die sozialistische Internationale den 8. März zum Tag der Frau aus.

Am 25. Februar 1911 sterben in New York 146 Frauen beim Brand einer Textilfabrik. Nur Tage zuvor waren in Europa mehr als eine Million Frauen für ihre Rechte auf die Strasse gegangen. Die Brandkatastrophe wird zum Wahrzeichen der Frauenproteste.

Am 8. März 1917 rufen russische Frauen zum Streik gegen den Krieg auf. Vier Tage später muss der Zar abdanken und die provisorische Regierung führt das Frauenstimmrecht ein.

1997 anerkennt die UNO das Datum als internationalen Tag der Frau.

(Quelle: UNO)

Keine militanten Feministinnen

Obwohl diese jungen Frauen den Kämpferinnen für Gleichstellung viel Respekt entgegen bringen, gehen sie gegenüber feministischen Bewegungen auf Distanz.

Zwar sehen sie sich selbst auch in gewisser Weise als Feministinnen, doch mit einer gewissen Zurückhaltung. «Extremistinnen machen den Männern Angst. Sie sind es leid, bestimmte Klagen zu hören. Und nachher erreicht man das Gegenteil von dem, was man will», sagt Chiara.

Wie lassen sich die gesetzten Ziele erreichen? Für Giulia sind Proteste auf der Strasse wenig sinnvoll: «Ich verstehe, dass in einigen Ländern, in denen die Frau wirklich unterdrückt ist, sich Frauen nur durch öffentliche Demonstrationen Aufmerksamkeit verschaffen können», sagt sie.

«Bei uns aber ist kein radikaler Wandel nötig. Daher sind Demos mit Transparenten eher kontraproduktiv. Der Wandel muss im Kleinen stattfinden, bei jeder Person. Dann ändert sich mit der Zeit auch die Mentalität der Gesellschaft.»

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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