Ein Genfer Kosmopolit lernt Schweizerdeutsch
Mundart erschwere den Ausländern die Integration und dem Land die Kohäsion, kritisiert Antonio Hodgers. Der Grüne Genfer Nationalrat ist für ein Jahr nach Bern gezogen, um Schweizerdeutsch zu lernen.
Das Lokal mit Terrasse ist ein beliebter Treffpunkt der in der Hauptstadt lebenden Romands. Antonio Hodgers steigt vom Fahrrad, setzt sich an den Tisch, redet und kommt gleich zum Thema.
«Im Radio, im Fernsehen und auch in den Schulen wird immer mehr Schweizerdeutsch gesprochen. Hält dieser Trend an, steuern wir auf ein ernsthaftes Problem mit der nationalen Kohäsion zu. Die Politik muss voraus schauen. Das tut sie zu wenig, wie die Probleme mit dem Bankgeheimnis zeigen.»
Vorausschauend hat Hodgers in Zeitungskolumnen in den Intelligenzblättern der Deutsch- und der Westschweiz (NZZ, Le Temps) drei Ideen lanciert: Dialekt als Landessprache, also auch für die lateinische Schweiz. – Dialekt nur noch im privaten Raum und konsequent Hochdeutsch im öffentlichen Raum der Deutschschweiz. – Englisch, Rätoromanisch oder Esperanto als einzige Landessprache.
Fremdsprache Hochdeutsch
Deutschschweizer Dialekt als Landessprache, auch in Genf oder in Lugano. Die Mundart-Rocker Polo Hofer, Züri West, oder Gölä sind längst in der gesellschaftlichen Mitte angekommen und auf den Radiosendern der deutschen Schweiz mehrheitsfähig. In der wichtigsten öffentlich-rechtlichen TV-Politsendung – der Arena – spricht Mann und Frau Dialekt. Jede Region, jedes Seitental ist stolz auf seinen heimischen Dialekt. Für eine Mehrheit der Deutschschweizer ist und bleibt Hochdeutsch eine Fremdsprache.
Viele Schweizerinnen und Schweizer lieben zwar ein weitgehend rudimentäres Business-Englisch im internationalen und zusehends auch im freundeidgenössischen Kontakt, aber Englisch als Landessprache? Undenkbar.
Polit-Marketing
«Ich verstehe gut, dass die Leute Lust haben, in ihrer Muttersprache, also in ihrem eigenen Dialekt zu reden. Das geht jedem so», sagt Hodgers. Die Deutschschweizer, die im Nationalrat Hochdeutsch sprechen müssen, seien sogar ein wenig zu bedauern, denn es sei «schwieriger, sich in einer gelernten Sprache auszudrücken, als in seiner Muttersprache.»
Mit seinen Vorschlägen zu einem neuen Sprachenpakt will der Politiker Antonio Hodges eine Debatte in Gang bringen. Gleichzeitig weiss er genau, dass es nur diejenigen in die inneren Kreise des parlamentarischen Machtkartells schaffen, die in den entscheidenden Momenten die richtige Sprache sprechen. Allianzen werden nicht im Plenum und kaum an Kommissionssitzungen, sondern danach geschmiedet.
«Wenn ich mit Kollegen auf ein Bier hierher komme, und wir über wichtige Aspekte der Politik reden, sprechen sie plötzlich Dialekt, weil sie müde sind vom Hochdeutschen. Ich bin dann von der Diskussion ausgeschlossen. Darum nehme ich jetzt einen Kurs in Schweizerdeutsch.»
Jargon, statt Dürrenmatt
Das sei eine Sprache, «die in unseren Ohren komisch klingt. Deshalb behalten wir eine gewisse Distanz. In der Schule lernen wir Hochdeutsch, wir lesen Dürrenmatt, aber auf der Strasse sind wir nicht fähig drei Sätze zu reden. Wir wechseln lieber auf Englisch. Da haben auch wir Romands ein Problem».
Deshalb müsse sich der Deutschunterricht in der Romandie stärker an der Alltagssprache und weniger an der Literatur orientieren und die Romands sollten auch Schweizerdeutsch lernen.
Um das zu tun und überdies auch Hochdeutsch, Kultur und Mentalität der sprachlichen Mehrheit besser kennen zu lernen, lebt Hodgers seit zwei Monaten in Bern.
Kein albanisch im Bus
Sofort aufgefallen seien ihm hier die zahlreichen Fahrräder samt Kinderanhängern im Strassenbild: «In den Deutschschweizer Städten hat es deutlich weniger Autos, als in Genf. Das ist eine enorme Lebensqualität. Umweltschutz ist hier mehr ein Thema.»
Einen Unbekannten frage man in Genf nach seinem Job, in Bern nach seiner Herkunft und das selbst, wenn er einen Basler- oder Bündner-Akzent habe. Die Leute in Bern seien weniger gestresst. «Sie leben eben in der Schweiz. Genf fühlt sich viel stärker in der Welt eingebettet. Genf ist kosmopolitisch und modern, Bern ist modern und traditionell.»
Die Gesellschaft hier sei kulturell homogener. «Es hat weniger Ausländer, weniger Schwarze. In Genf sprechen die Leute im Bus untereinander spanisch, italienisch oder afrikanisch. Hier habe ich im Bus noch nie albanisch gehört», sagt der Mann, der kürzlich im Nationalrat für eine Überraschung sorgte, indem er eine Mehrheit hinter seine Motion brachte, die jugendlichen «Sans Papiers» eine Berufslehre ermöglicht.
Dialekt behindert Integration
Für Hodgers ist klar: Ausländer haben es in der Romandie leichter, sich zu integrieren, als in der Deutschschweiz. Er führt dies auch auf die Barriere-Funktion des Dialekts zurück und beruft sich auf eine Studie, die sich ausdrücklich nicht auf Secondos aus der lateinischen Welt beziehe.
«40% der Deutschschweizer Secondos bezeichnen die Muttersprache ihrer Eltern als ihre Hauptsprache. In der Romandie sind es lediglich 20%.»
Das habe damit zu tun, dass Ausländer in der deutschen Schweiz zwei Sprachen lernen müssen, währendem sich die Secondos in der Romandie «viel schneller im Französischen heimisch fühlen und eine französische Identität annehmen.»
Andreas Keiser, swissinfo.ch
1974 in Argentinien geboren.
Kam 1976 mit seiner Mutter und seiner Schwester als Flüchtling in die Schweiz.
Schon als Jugendlicher engagierte hat er sich in der Politik und in verschiedenen Vereinen.
So war er unter anderem Präsident des Jugendparlaments der Gemeinde Meyrin .
Er war Mitgründer und Präsident des Vereins «J’y vis, j’y vote“, der sich auf Gemeindeebene erfolgreich für das Stimm- und Wahlrecht der ausländischen Bevölkerung eingesetzt hat.
Im Alter von 21 Jahren wurde er in den Grossen Rat des Kantons Genf gewählt.
2002-2003 präsidierte er die Grüne Grossratsfraktion.
2006-2008 war er Präsident der Grünen Partei Genf.
Seit 2007 ist er Nationalrat.
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