Ein Schaf soll die Alpen vor der Verbuschung retten
Sieben Prozent der Schweizer Alpweiden sind in den letzten 30 Jahren unter einem Dickicht von Büschen verschwunden. So ergeht es auch anderen Bergregionen. Hauptproblem: die Grünerle. Ein Projekt zeigt nun, was gegen die invasive Pflanze hilft.
Das Engadinerschaf bewegt sich mühelos am steilen Hang. Doch irgendetwas stimmt nicht, vielleicht ein spitzer Zweig, der sich in seiner Klaue verfangen hat? Es blökt und blökt.
Biologin Erika Hiltbrunner antwortet ihm. Davon unbeeindruckt lärmt das Tier weiter. Bis es endlich die Antwort erhält, die es wollte: ein Blöken, leiser, ein paar Töne höher, von einer feineren Stimme. Vom Lamm, das seine Mutter sucht.
Das junge Engadinerschaf trinkt noch Milch; seine Mutter frisst die Rinde der Grünerlenbüsche, die hier überall wachsen. So leisten die Engadinerschafe an diesem Hang im Innerschweizer Urserntal kauend einen Beitrag für die Biodiversität.
Kein Fett, kein Interesse
Da Engadinerschafe kaum Fett ansetzen und darum für viele Züchter:innen uninteressant waren, ist die alte Rasse aus den Alpen im 20. Jahrhundert fast ausgestorben. Mittlerweile erleben sie aber einen kleinen Hype, weil sie widerstandsfähig und zutraulich sind – und wegen dem fettarmen Fleisch, das heute gefragt ist.
Doch ihre womöglich herausragendste Bedeutung erlangen sie durch ihre eigene Fressvorliebe. Andere Rassen, etwa das verbreitete Weisse Alpenschaf, fressen nur Gras. Die Engadinerschafe aber gehen an die Büsche.
«Ein Engadinerschaf, das zuvor nie eine Grünerle gesehen hat, kommt hierhin und beginnt zu fressen», sagt Hiltbrunner. Die Geschäftsführerin der Alpinen Forschungsstation Furka ALPFOR, die der Universität Basel angegliedert ist, ist Pflanzenökologin. Doch sie hat die zutraulichen Tiere über die Jahre liebgewonnen.
Über 400’000 Schafe in der Schweiz
Gegenwärtig gibt es in der Schweiz rund 3400 Engadinerschafe. Das sind die im Zuchtbuch des Schweizerischen Engadinerschaf-Zuchtverein SEZ eingetragenen Tiere dieser widerstandsfähigen Rasse. Der Verein geht aber davon aus, dass es schweizweit insgesamt 10’000 Engadinerschafe gibt. Auch diese entsprechen nur einem Bruchteil des Schweizer Schafbestands von über 400’000 Tieren.
Um 1980 war die alte Schafrasse der Engadinerschafe fast ausgestorben, weil Züchter:innen Schafe bevorzugten, die schneller wachsen und mehr Fleisch bringen. Heute setzt eine eingeschworene Gemeinschaft von rund 260 Landwirt:innen und Hobby-Züchter:innen auf Engadinerschafe.
SEZ-Präsident und Landwirt Maël Matile nennt die Fruchtbarkeit als entscheidenden Vorteil der Engadinerschafe: Anders als die meisten Schafrassen können die Tiere ganzjährig schwanger werden. Im Schnitt gebären die Muttertiere dreimal innert zwei Jahren. «Viele Leute kaufen auch wegen ihrer Fruchtbarkeit Engadinerschafe als Muttertiere und kreuzen sie mit einer Fleischrasse.»
Bei Engadinerschafen dauert es einige Monate länger, bis sie geschlachtet werden können. Gemäss Matile ist ihr Fleisch dafür «zarter, fast wie Wild». Seine Kund:innen würden besonders schätzen, dass das fettarme Fleisch der Engadinerschafe keinen «Bockgeschmack» hat, wie es sonst für Lammfleisch typisch ist.
Im Vergleich mit dem Fleisch ist die Wolle wirtschaftlich vernachlässigbar: Es geht um wenige Franken pro Tier und Jahr. Die Nachfrage nach Wolle steige aber immerhin wieder – weil Gebäudeisolation auf Schafwollbasis einen Aufschwung erlebt.
Sieben Prozent der Schweizer Alpweiden sind in den letzten 30 Jahren unter einem Dickicht von Büschen verschwunden. Besonders die Grünerle gilt als Bedrohung. Das Kompetenzzentrum Agroscope, das dem Bundesamt für Landwirtschaft angegliedert ist, schreibt über die Grünerle: «Wo dieser Busch aufkommt, nimmt die Biodiversität unmittelbar ab.»
Dies festzustellen, sei «deshalb so wichtig, weil die Grünerle der mit Abstand häufigste Busch im Alpenraum ist». 62% weniger Pflanzenarten als in offenem Grasland hat Hiltbrunner im Urserntal «unter dichten Grünerlenbeständen» festgestellt.
Die Grünerlen-Verbuschung ist nicht nur in der Schweiz ein Problem. «Im ganzen Alpenbogen, in den Pyrenäen und den Karpaten breitet sich diese Art aus», sagt Hiltbrunner, «aber auch im Himalaya und in Nordamerika gibt es Grünerlen-Unterarten, die zum Problem werden können.»
Laut Hiltbrunner gehe man etwa in Frankreich gegen die Verbuschung vor, indem man die Grünerlen abschneidet. Doch die Pflanze ist eine Überlebenskünstlerin: Sie verwurzelt sich leicht wieder. Zurückschneiden alleine bringe kaum etwas.
Eine globalisierte Pflanze
Weltweit kommen Grünerlen auf grossen Teilen der Nordhalbkugel vor: in Russland, China und Japan, in Kanada und bis zur Südspitze Grönlands. Gemäss Agroscope stabilisieren sie an «ihren natürlichen Standorten, wie Bachläufen oder Lawinentrichtern» das Ökosystem. Problematisch ist die Pflanze, wenn sie im «artenreichen Weideland» überhandnimmt.
«Viele Ausflügler sehen die Landschaft bloss als Szenerie», sagt Hiltbrunner, umgeben von Engadinerschafen auf ebensolchem Weideland. «Sie sehen das Grün und denken: ‹Das ist gut›.» Was sie nicht sehen, sind die runden «Korallen», die sich an den Wurzeln der Grünerlen-Büsche bilden. Darin wirkt ein Bakterium, mit dem die Grünerle eine Symbiose eingeht. Dieses Bakterium reichert Stickstoff an.
«Das ist, wie wenn wir Menschen künstlichen Dünger herstellen. Salopp gesagt: Die Grünerle hat immer einen Düngersack dabei.» Dieser Dünger hilft zunächst auch den Pflanzen in der Umgebung, aber wenn die Grünerlen überhandnehmen, verbleiben nur einige wenige Arten im Schatten.
Der Stickstoff der Grünerle kann ausserdem den Boden versäuern und als Lachgas in die Luft treten. Lachgas ist ein Treibhausgas. Das führt dazu, dass Berghänge ohne wirtschaftlichen Zweck dem Klima schaden. «Nach unserer Rechnung bewirkt ein Hektar Grünerle die CO2-Äquivalente von einer 10’000 Kilometer-Autofahrt mit einem Mittelklassewagen», sagt Hiltbrunner.
Lange hielt man alles, was holzig ist, für CO2-senkend. «Lange behandelte man die Grünerle wie Wald. Aber sie leistet nichts, was Wald leistet: Sie bietet keinen Lawinenschutz, sie hat keine Wohlfahrtsfunktion, und sie bedroht die Vielfalt.»
Dort, wo bei unserem Besuch die Schafe weiden, war vor 1000 Jahren Wald. Bis vor zehn Jahren war es ein Skigebiet. Einst rodeten Menschen die Hänge, um sie landwirtschaftlich zu nutzen. Sie lebten hier, wie Überbleibsel eines Steinhauses zeigen. Sie nutzten das Gebiet, prägten dabei auch die Landschaft. Heute rosten hier die Masten des Skilifts. Die Landschaft wird sich selbst und damit der Verbuschung überlassen.
Am Boden vor Hiltbrunner liegen abgeknabberte, ausgetrocknete, zertrampelte Grünerlen-Triebe. Haben die Engadingerschafe erst die Rinde abgekaut, können Pilze und Bakterien die Äste des Busches angreifen. Wer die Tiere einige Sommer hintereinander weiden lässt, könne eine Wiese von den Grünerlen zurückholen. Dann könnte mit den richtigen Aufforstungsmassnahmen sogar wieder Wald entstehen.
Doch dafür fehlen Mittel. Viele jener Landwirt:innen, die dieses Land gemeinschaftlich verwalten, seien wenig motiviert, sich aktiv für die Entbuschung einzusetzen. Hiltbrunners «Schafprojekt» läuft momentan noch mit Restmitteln aus einem Stiftungsbeitrag.
Studie bestätigt Wirksamkeit
Dabei zweifelt niemand daran, dass die Engadinerschafe einen Unterschied machen. Unlängst bestätigte eine gemeinsame Studie von der ETH Zürich und Agroscope, die im renommierten «Journal of Applied Ecology» erschienen ist, die Wirksamkeit der Schafrasse gegen Grünerlen.
Auf Anfrage von SWI swissinfo.ch empfiehlt Agroscope «aus ökologischer Sicht» den Einsatz von Engadinerschafen gegen die Verbuschung auch international, beispielsweise in anderen Alpenländern oder den Pyrenäen. Mögliche Einsatzregionen müssen von den Umweltbedingungen her zu den Engadinerschafen passen.
Zu «kulturellen Vorbehalten», die es ab und an gebe, schreibt die Agroscope-Sprecherin, dass man in der Schweiz «mittlerweile ja auch Zebus aus Asien, Lamas aus den Anden oder Hochlandrinder aus Schottland zur Weidepflege» einsetzt.
Einige Tage nach unserem Besuch werden die Engadinerschafe im Urserntal auf eine höher gelegene Weide ziehen. Hiltbrunner zeigt, wie dort bereits die Pflanzen blühen. «Orchideen wie diese würden in Stadtnähe Pflanzenfans anlocken, hier oben wachsen sie einfach für sich.»
Wenn die Schafe dann ein paar Blüten zertrampeln, wachsen nächstes Jahr wieder neue. Die Biologin nennt die Region einen «Hotspot der Vielfalt». Den gelte es zu bewahren.
Editiert von Marc Leutenegger
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