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«Eine Behinderung ist ein Merkmal wie die Augenfarbe»

Schmetterling in einem Klassenzimmer hängend
In Regelklassen fehlen oft die Mittel, um Kinder mit besonderen Bedürfnissen einzubeziehen. Keystone / Dominic Steinmann

Marah Rikli ist Journalistin, ausgebildete Buchhändlerin, Moderatorin und Mutter eines Kindes mit Behinderung. Im Gespräch mit swissinfo.ch spricht sie über inklusive Schulen, soziale Rollen, Ungerechtigkeit, Vielfalt und Wünsche.

Marah RikliExterner Link mag keine Ungerechtigkeiten. Vor allem nicht, wenn es die Schwächsten und Wehrlosesten sind, die sie erleiden. Wie ihre Tochter. Ronja (die eigentlich anders heisst) ist fast neun Jahre alt und kommt im August in die dritte Klasse der Primarschule in Zürich.

Ronja ist ein besonderes Kind, wie es alle Töchter sind. Aber sie ist spezieller als andere: Sie hat eine Entwicklungsstörung. Das ist die Kurzdefinition des Merkmals, das sie einzigartig macht.

Die lange Definition: Sprachentwicklungsstörung, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Zwänge und Hypotonie, geistige Behinderung und vieles mehr.

Marah Rikli mit ihrer Tochter
Marah Rikli mit ihrer Tochter © privato (ZvG)

Ronja ist ein besonderes Kind, und so zieht sie im Alltag die Aufmerksamkeit der Menschen um sie herum auf sich. Zum Beispiel im Bus zum Schwimmbad. Ronja und Marah sitzen auf den letzten beiden freien Plätzen. Es ist brütend heiss. Die automatischen Türen schnappen mit einem lauten Geräusch zu.

Ronja schreit und flucht auf die Tür und zeigt mit dem Finger auf sie. Eine Frau im Bus fragt sie, was ihr Problem sei. Ronja reagiert darauf, indem sie noch lauter schreit und ihr die Handfläche zeigt, was in der Zeichensprache «Stopp» bedeutet. Die Frau versteht das nicht und bezeichnet sie als unhöflich.

Marah weiss, dass Ronja nur durch Stille zu beruhigen ist. Und so übertönt sie mit ihrer Stimme alle Geräusche im Bus und erklärt der Frau, dass ihre Tochter ein Problem mit Türen hat, dass sie Autismus hat. Ein verlegenes Schweigen bricht im Bus aus.

Rikli kann nicht in jeder Situation erklären, dass ihr Kind eine Entwicklungsstörung mit autistischen Zügen hat – das dauert zu lange. Ronja würde in der Zeit noch lauter schreien.

Daher erwähnt Rikli die Diagnose, die Ronjas Behinderung am ähnlichsten ist und die viele Menschen verstehen, auch wenn sie zahlreiche Vorurteile haben.

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Behinderung ist fast schon ein Schimpfwort

Ich treffe Marah Rikli in einem Quartierrestaurant in Wipkingen in der Stadt Zürich. Es ist schwierig, einen ruhigen Tisch zu finden. Auf der einen Seite die Bahnlinie, an der gearbeitet wird, auf der anderen Seite eine stark befahrene Strasse.

An einem sonnigen Tag im Spätfrühling verzichten wir auf einen Platz draussen und suchen uns einen drinnen. Aber auch hier hören wir die Geräusche aus der Küche und der Bar. Mit einer gewissen Frustration beginnen wir das Gespräch.

Ein Gefühl, das Rikli sehr gut kennt und fast täglich erlebt. Rikli ist Autorin, ausgebildete Buchhändlerin und Moderatorin. Sie schreibt regelmässig über das Leben mit ihrer Tochter, was sie auf dem Blog «Mamablog: Leben mit behindertem Kind» beim Tages-Anzeiger oder bei “ellexx” und im Lehrpersonenmagazin “Rundgang” regelmässig veröffentlicht.

Die Beschreibung der Busfahrt ist einem ihrer Beiträge entnommenExterner Link. Mit ihren Artikeln will sie das Unsichtbare sichtbar machen, denjenigen eine Stimme geben, die keine haben.

«Meine Kinder haben mich politisiert», sagt sie. «Zuerst kam der Feminismus. Als Mutter realisierte ich, was dieses Land in den letzten Jahrzehnten alles versäumt hat. Zum Beispiel die Förderung von Massnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie», sagt sie.

«Und dann wollte ich mich nicht dem anpassen, was die Gesellschaft von einer Mutter erwartet: immer an der Seite ihrer Kinder zu sein, weil sie ihr einziges Lebensprojekt sind. Und wenn es in der Schule Probleme gibt, ist die Mutter schuld, nie der Vater.»

Rikli passt nicht ins Bild. Sie ist es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Als Mädchen identifizierte sie sich mit denen, die anders waren, mit den Nonkonformistinnen. Als Ronja geboren wurde, sah sie die urteilenden Augen der Menschen auf sich gerichtet, was ihr trotzdem ein schlechtes Gewissen einbrachte.

«In unserer Gesellschaft wird eine Behinderung mit etwas Negativem assoziiert. Es ist fast ein Schimpfwort. Sie ist etwas, das man verstecken muss, für das man sich schämt. Stattdessen sollte sie als ein Merkmal betrachtet werden, wie die Augenfarbe oder ein Hut.»

Das hat Rikli in vielen Gesprächen mit Inklusionsaktivistinnen und -aktivisten wie dem deutschen Raul Krauhtausen oder dem Schweizer Moderator Jahn Graf gelernt.

«In unserer Gesellschaft wird eine Behinderung mit etwas Negativem assoziiert.»

Marah Rikli

Rilki ist in Redelaune – ihr Espresso ist mittlerweile kalt geworden. In einer Pause frage ich sie, was Inklusion für sie bedeutet.

«Meine Tochter besucht eine Sonderschule. In den Klassen sind fünf bis acht Kinder, die von zwei bis drei Personen mit entsprechender Ausbildung in Logopädie, Psychotherapie oder Heilpädagogik begleitet werden. Und dann gibt es noch die Kantine und den Hort, ein Umfeld, in dem sich Ronja wohlfühlt», sagt Rikli.

«Ich weiss, es ist ein Widerspruch, dass ich mich einerseits für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen einsetze und andererseits meine Tochter auf eine Sonderschule schicke. Aber es ist sowohl für meine Tochter als auch für mich die beste Lösung: So kann ich durchatmen und beruflich aktiv sein.»

Bevor wir uns trafen, drehte Rikli ein paar Runden im Schwimmbad. Danach wird sie ein Interview zu Ende schreiben. Am Abend moderiert sie eine Debatte im Rahmen der Treffen mit dem Titel «Karl*a der*die Grosse».

Rikli hat einen weiteren 18-jährigen Sohn, der eine Berufsausbildung absolviert. Er besuchte die Schule in einer normalen Klasse. In den letzten Jahren der Pflichtschule wurde bei ihm eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) diagnostiziert. In der Grundschule erhielt er Integrationshilfe und pädagogisch-psychomotorische Therapien.

Fehlende Ressourcen

«Meiner Meinung nach gibt es in den Regelschulen nicht genügend Ressourcen», sagt die 42-Jährige. «Die Klassen sind zu gross, um die Inklusion von Kindern mit besonderen Bedürfnissen zu fördern. Und dann ist da noch dieser ganze Druck, dieser Wettlauf zum Gymnasium: In manchen Lebensbereichen ist das ein Muss.»

Die Situation in den Schulen beschäftigt Rikli schon lange. “Wer hat Zugang zu Bildung? Wer wird im Bildungswesen diskriminiert?», fragt sie

«Je nachdem, ob das Kind eine Behinderung hat, aus der Arbeiterklasse stammt, dick ist oder nicht weiss, wird es anders behandelt als weisse, nicht behinderte Kinder aus Haushalten von Akademikerinnen und Akademikern. Wir haben keine Chancengleichheit in der Schweiz, auch wenn uns das oft suggeriert wird.»

Sie weiss, dass es viele Lehrpersonen gibt, die sich verrenken für die Schülerinnen, die Studenten, die Klassen. Sie haben es schwer: grosse Klassen, problematische Schulkinder, anspruchsvolle Eltern, wenig gesellschaftliche Anerkennung.

Es werde zu wenig über positive Geschichten, engagierte Lehrpersonen und gelungene Inklusion geschrieben, findet die Journalistin. «Vielleicht ist die Integration in eine Regelklasse nicht immer die beste Lösung, zumindest nicht für meine Tochter», gibt Rikli zu.

«Vermutlich würde eine vollständige Änderung des Schulsystems den Prozess hin zu einer echten Integration erleichtern. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Es ist jedoch der Wunsch einer Mutter von zwei Kindern, die nicht in die Norm passen.»

Marah Rikli sagt dies nicht mit einem müden, sondern mit kämpferischem Blick. Ihr Kampf für eine integrative Gesellschaft ist noch nicht vorbei. Wir verabschieden uns an der Bushaltestelle.

Heute ist sie allein. Mit ihrer Tochter würde es anders aussehen. Sie würde an die Oberfläche bringen, was unsichtbar, latent vorhanden ist. Das Unverständnis für das, was anders ist.

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