Eine Familie auch für Strassenkinder
Der kleine Thaw Zin Oo bettelt in den Strassen von Yangon, Burma. Die Polizei nimmt ihn fest und überweist ihn in ein städtisches Erziehungsheim. Das Schweizer Hilfswerk Terre des hommes bringt ihn wieder in seine Familie zurück.
Die Arbeit des 41-jährigen U Kyaw Saung ist einfach: aufladen und abladen. Jeden Morgen fährt er eine Stunde mit dem Bus bis zum Markt am Rande der Stadt Yangon. Dort verdient er sein Leben mit dem Transportieren von Kartonschachteln und Reissäcken auf seinem Handwagen.
Wenn er abends in seine Hütte aus Stroh und Bambus zurückkehrt, ist die Sonne schon eine Weile untergegangen. In der Tasche hat U Kyaw Saung 4000 bis 5000 Kyat (rund 5 Franken), den Verdienst eines Arbeitstages.
Zwei seiner Söhne gehen zur Schule, während der dritte Sohn, der kleinste, sich um den Haushalt kümmert – ganz allein, weil die Mutter an Diabetes gestorben ist.
Neben seiner Frau hat U Kyaw Saung beinahe auch Thaw Zin Oo verloren. Der zweitälteste, zehnjährige Sohn verschwand eines Tages, ohne jegliche Spur zu hinterlassen, während sein Vater seinen Handwagen schob.
«Ich hatte Thaw Zin Oo auf den Markt mitgenommen, wo ich ihn in Begleitung von anderen Jungen zurückliess. Am Ende des Tages, als wir nach Hause gehen wollten, war er verschwunden», erzählt der Vater.
Strassen-«Säuberung»
U Kyaw Saung hat seinen Sohn nach zwei Monaten wieder gefunden, dies dank der Intervention von Terre des hommes (Tdh), einer schweizerischen Nichtregierungs-Organisation, die sich für den Schutz der Kinderrechte engagiert.
«Unsere Aufgabe ist es, jene Kinder, die in staatliche Erziehungsheime in Yangon eingeliefert werden, wieder in die Familie oder die Gemeinschaft zu integrieren», sagt Rob Millman gegenüber swissinfo.ch. Der Leiter des Tdh-Büros in Burma erinnert daran, dass das Recht auf Familie in der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes festgeschrieben ist.
Die Polizei von Yangon «säubert» periodisch die Strassen der Stadt von Kindern, die dort arbeiten, wie Millman erklärt. «Manchmal zum Schutz der Kinder, manchmal aber auch zum Image-Schutz der Stadt, zum Beispiel unmittelbar vor wichtigen Ereignissen.»
Die Kinder werden von der Polizei in spezielle Heime eingeliefert, in denen neben Bettlern auch Waisenkinder und kriminelle Jugendliche enden. «Die Bedingungen in diesen Anstalten sind allgemein gut, sicher besser als jene auf der Strasse. Sie haben zu essen und gehen zur Schule», betont der Tdh-Mitarbeiter.
«In diesen Heimen herrscht jedoch strengste Disziplin, und niemand bemüht sich wirklich darum, dass die Kinder ihre Familien wiederfinden. Die Kinder bleiben deshalb während Wochen, Monaten oder Jahren von ihren Eltern getrennt.»
Jene Kinder, denen es gelingt, auf irgend eine Weise aus dem Heim auszureissen, erhalten laut Millman überhaupt keine Betreuung. «Sie laufen Gefahr, sich bald wieder auf der Strasse zu finden und sich Missbräuchen auszusetzen, bis sie erneut ins Heim kommen. Es ist ein Teufelskreis.» 70% der von den Stadtbehörden in ein Heim eingelieferten Jungen seien mindestens schon einmal verhaftet worden.
Dank Fischgestank die Familie wiederfinden
Das Schicksal der Strassenkinder hat auch der kleine Thaw Zin Oo erlebt. Während sein Vater arbeitete, hatte er sich ins Zentrum von Yangon vorgewagt und dann nicht mehr nach Hause zurückgefunden.
So wurde er von einigen Erwachsenen «adoptiert», die ihn zum Betteln und zum Schlafen draussen auf der Strasse zwangen. Mit einem Teil des erbettelten Geldes kaufte er sich Essen. Den Rest musste er der «Tante» abgeben, wie Thaw Zin Oo erzählt, der lieber nicht sagen will, wie er behandelt wurde.
Als ihn die Polizei ausserhalb einer Pagode überraschte – «ich wusste nicht, was überhaupt passiert, alle anderen hatten sich aus dem Staub gemacht» –, lieferte sie Thaw Zin Oo in ein Heim des Departementes für soziale Sicherheit (DSW) ein. Dort wurde er einige Wochen später von Tdh-Sozialarbeitern aufgespürt.
«Unsere Mitarbeiter besuchen diese Heime der Stadt auf der Suche nach verlassenen oder von zu Hause ausgerissenen Kindern, die wieder zu ihren Familien zurückkehren möchten», sagt Rob Millman. «Trotz der Zusammenarbeit mit dem DSW ist das Zurückgehen zu den Eltern oder Verwandten alles andere als einfach. Oft wissen die Kinder kaum oder überhaupt keinen Bescheid über ihre Geschichte und ihren Herkunftsort», so Millman.
Thaw Zin Oo habe lediglich erzählt, dass er von Shwepyitar komme, eine Gegend, in der über 20’000 Familien wohnen und wo es selten Strassennamen gebe, erklärt die Tdh-Mitarbeiterin Su Su Mar. «Glücklicherweise erinnerte sich Thaw Zin Oo an die Liniennummer des Buses, mit dem sein Vater jeden Tag fuhr.»
In anderen Fällen bereite das Auffinden der Familie «einiges Kopfzerbrechen», sagt Rob Millman. Eine Arbeit, die manchmal Monate an Ermittlungen erfordere. Zum Beispiel, wenn die Eltern in einem anderen Staat des Landes lebten, Hunderte von Kilometern von der Stadt Yangon entfernt.
«Wir sprechen mit den Kindern, fordern sie auf, Zeichnungen von ihrem Haus, vom Dorf zu machen. Ein Kind konnte sich an die Ekel erregenden Gerüche in seinem Quartier erinnern. Diese Information ermöglichte uns, die Familie des Kindes aufzufinden, die in der Nähe einer Fischzucht wohnte.»
Eine neue Schule und ein neues Haus
Bevor das Kind wieder in die Familie integriert wird, evaluiert das Schweizer Hilfswerk, ob diese die Mittel hat, um für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. «Falls dies nicht zutrifft, hat es keinen Sinn, das Kind seinen Eltern anzuvertrauen, wenn es schon bald wieder auf der Strasse landet oder schlecht behandelt wird. Manchmal muss man anerkennen, dass die Familie nicht immer die beste Lösung ist», sagt Millman.
Das Tdh-Projekt in Burma will die gesamten Familienhaushalte unterstützen. Den Eltern soll bei der Suche nach einer Arbeit oder nach einer geeigneteren Wohnung geholfen werden. Tdh kommt ferner für die Schulkosten des Kindes und seiner Brüder und Schwestern sowie für die Ausgaben für medizinische Hilfe und die persönliche Hygiene auf. Seit Januar 2011, dem Beginn des Tdh-Projektes, hat das Schweizer Hilfswerk für rund 300 burmesische Kinder die Verantwortung übernommen.
Thaw Zin Oo besucht jetzt nicht nur die Schule, er hat auch ein neues Haus. Immer noch aus Stroh und Bambus, aber immerhin auf den Seiten geschlossen und mit weniger Löchern im Dach. Sein Vater, zuerst wegen des Verschwindens seines Sohnes von der Gemeinschaft getadelt, kann jetzt wieder auf die nachbarschaftliche Solidarität zählen.
«Tagsüber kümmern sich die Nachbarn um meinen kleinsten Sohn», sagt U Kyaw Saung. «Ich werde von meinen Kindern nie mehr verlangen, dass sie mich zu meiner Arbeit zu begleiten.»
Die 1960 von Edmond Kaiser gegründete Stiftung Terre des hommes (Tdh) ist die grösste schweizerische Nichtregierungs-Kinderhilfsorganisation.
Tdh ist in 34 Ländern mit 100 Projekten engagiert. Die Nutzniesser der Tdh-Aktivitäten werden auf 1,47 Millionen Menschen geschätzt.
Tdh verfügt über ein Jahresbudget von rund 60 Millionen Franken und beschäftigt etwa 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Schweizer Stiftung Tdh ist Teil der Internationalen Föderation Terre des hommes, welche die Sektionen von 11 Ländern umfasst, darunter Italien, Frankreich, Deutschland und Spanien.
Tdh ist seit 2008 in Burma präsent, dem Jahr der Verwüstung des Landes durch den Wirbelsturm Nargis. Die Tdh-Projekte konzentrieren sich auf die Wiedereingliederung von Kindern in die Schule, die Förderung von Gesundheit und Hygiene, den Zugang zu Trinkwasser sowie den Kindheitsschutz.
Sie polieren Schuhe, waschen Autos, verkaufen Zeitungen, durchwühlen Abfälle und betteln. Das ist die tägliche Realität von zahlreichen armen und vernachlässigten Kindern, die in asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischenGrossstädten leben.
Das UNO-Kinderhilfswerk Unicef schätzt die Zahl der zwischen 5 und 18 Jahre alten Kinder, die zur Arbeit und zum Leben auf der Strasse gezwungen sind, weltweit auf 100 Millionen.
Nicht selten gleiten diese Kinder und Jugendlichen in die Illegalität ab (Diebstahl, Drogen) oder werden zur Prostitution gezwungen. Zugang zu Schule und medizinischer Hilfe sind oft ausgeschlossen.
2004 hat die Universität Bern eine Untersuchung in der Schweizer Hauptstadt durchgeführt. Sie zeigte auf, dass auf den Strassen Berns 100 Minderjährige leben.
Im Unterschied zu Entwicklungsländern steht die Situation in Bern jedoch nicht mit Armut im Zusammenhang, sondern mit Schulintegrations-Problemen oder Konflikten mit den Eltern.
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)
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