«Eine öffentliche Krankenkasse als Demokratisierung des Systems»
Wenn die Volksinitiative "Für eine öffentliche Krankenkasse" in der Abstimmung vom 28.September angenommen werden sollte, würde das Versicherungswesen "günstiger und transparenter". Diese Ansicht vertritt der bekannte Onkologe und Universitätsprofessor Franco Cavalli. Der Sozialdemokrat kritisiert die hohen Verwaltungskosten der Privatversicherer und die Intransparenz ihrer Kostenstruktur.
Das Schweizer Gesundheitswesen ist von hoher Qualität und im Allgemeinen sind die Patienten mit dem System sehr zufrieden. Aber es gibt einen Aspekt, mit dem die Mehrheit der Bevölkerung in der Schweiz unzufrieden ist: Die Prämien der Krankenkassen werden als zu hoch betrachtet; zudem steigen sie von Jahr zu Jahr an.
Franco Cavalli
Franco Cavalli (72) ist wissenschaftlicher Direktor des onkologischen Instituts der italienischen Schweiz und Honorarprofessor der Medizinischen Fakultät der Universität Bern. Er präsidiert zudem den wissenschaftlichen Beirat der Europäischen Schule für Onkologie. Neben seiner Tätigkeit als Arzt und Krebsforscher war Cavalli stets auch politisch aktiv.
So war er Abgeordneter für die Sozialdemokratische Partei (SP); zuerst im Kantonsparlament von 1987 bis 1995; dann im Nationalrat von 1995 bis 2007. In der Volkskammer war er SP-Fraktionschef.
Auch nach seinem Rückzug aus dem Schweizer Parlament beteiligt sich Cavalli aktiv an politischen Debatten und Diskussionen über Volksabstimmungen, so wie jene zur öffentlichen Krankenkasse, über die das Stimmvolk am 28.September 2014 an der Urne befindet. Cavalli lebt mit seiner Familie in Ascona (Tessin).
Dieser Anstieg ist zu einem guten Teil die Folge von strukturellen Mängeln des Krankenversicherungs-Gesetzes (KVG), das die Basis für die Finanzierung der Krankenkassen darstellt.
Ein erster Mangel besteht darin, dass im stationären Bereich (Spitalaufenthalte, mit Ausnahme der Notaufnahmen) der Staat die Hälfte der Kosten trägt, während im Bereich der ambulanten Behandlungen (Arztpraxen und Notfallbehandlungen in Spitälern) die Kosten vollumfänglich von den Krankenkassen getragen werden.
Dies führt dazu, dass Behandlungen aus dem stationären Bereich, teils missbräuchlich, an den ambulanten Sektor delegiert werden. Und dies erklärt, warum die Prämien der Krankenkassen stärker ansteigen als die Gesundheitskosten im Allgemeinen.
in zweiter wichtiger Strukturfehler besteht darin, dass in der Schweiz die Prämien – als einzigem Land in Europa – unabhängig vom Einkommen bezahlt werden. Egal, ob eine Person viel oder wenig verdient, bezahlt sie die gleiche Prämie für die Grundversicherung.
Da reiche Personen in der Schweiz somit wesentlich geringere Krankenkassenprämien bezahlen als in anderen Ländern, steigen umgekehrt die Prämien für die mittleren und unteren Einkommensschichten stärker an.
Mehr Versicherungen = mehr Probleme
Diese Probleme verstärken sich durch die Tatsache, dass es in der Schweiz eine hohe Zahl von privaten Krankenversicherungen gibt (bis vor kurzem waren es 100, jetzt sind es noch 61), welche zu einer absoluten Intrasparenz des Systems führen und die Kosten unnötigerweise in die Höhe schnellen lassen.
Das System ist derart kompliziert, dass es praktisch unmöglich geworden ist, den Kostenanstieg rational zu erklären und zu verstehen. Franco Cavalli
Dies sieht man sehr schön daran, dass jedes Mal, wenn eine Kantonsregierung oder eine öffentliche Institution sich von den Krankenkassen die genauen Gründe für einen Prämienanstieg hat erklären lassen wollen, diese am Ende das Handtuch geworfen hat. Denn das System ist derart kompliziert, dass es praktisch unmöglich geworden ist, den Kostenanstieg rational zu erklären und zu verstehen.
Ich möchte an dieser Stelle an die Tragikomödie erinnern, die sich im Eidgenössischen Parlament abgespielt hat, nachdem man festgestgestellt hatte, dass in einer Reihe von Kantonen zu hohe Prämien bezahlt worden waren und es um eine Rückerstattung der Beträge an Tausende von geschädigten Versicherten ging. Am Ende fand man nur eine «Minimal-Lösung», mit der niemand zufrieden war. Hätte es eine Einheitskrankenkasse statt dieses komplexen Systems gegeben, wäre eine Lösung des Problems sehr einfach gewesen.
Die Spitzensaläre der Kaderleute
Die hohe Zahl von Krankenkassen bedeutet auch, dass es eine hohe Zahl von Managern mit Spitzenlöhnen gibt. Zu viele. Und es verwundert nicht, dass die Verwaltungskosten der privaten Krankenversicherer drei Milliarden Franken betragen.
Als Argument für die Vielzahl der Krankenkassen wird gerne das Argument angeführt, dass so eine gewisse Konkurrenz zwischen den Anbietern spielt und somit letztlich die Kosten reduziert werden. Doch in einem Gesundheitssystem, in dem die Kosten für einzelne Behandlungen von den Gesundheitsbehörden festgelegt sind, haben die Kassen letztlich nur die Möglichkeit, durch die Konkurrenz die eigenen Gewinnmargen zu erhöhen, indem sie ihren Versicherten bestimmte Kostendeckungen verweigern, so genannte schlechte Risiken (alte und krankheitsanfällige Personen) vertreiben, und alles Mögliche tun, um gute Risiken (junge und gesunde Menschen) durch teure Kampagnen anzuwerben.
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Unfallversicherung als Vorbild
Die Mehrheit dieser Probleme wäre gelöst, wenn es eine öffentliche Krankenkasse gäbe, so wie in der Volksinitiative vorgeschlagen. Dies zeigt auch ein Blick auf das Beispiel der SUVA, der öffentlichen Unfallversicherung, die letztlich nichts anderes ist als eine «öffentliche Krankenkasse» im Bereich von Unfällen. Die SUVA garantiert nicht nur eine transparente Kostenstruktur, sondern verbessert auch jedes Jahr ihre Dienstleistungen, während gleichzeitig die Prämien für die Versicherten sogar sinken: Es ist das genaue Gegenteil dessen, was im Bereich der privaten Krankenkassen geschieht.
Als funktionierende Einheitskasse hat die SUVA die Möglichkeit, gut ausgebildete Ärzte einzustellen, die mit den behandelnden Ärzten von Patienten in ständigem Kontakt stehen, um die besten Behandlungen zu garantieren.
Aus rationaler und logischer Sicht ist es schwierig, einen Grund zu finden, um diese Verbesserung unseres Gesundheitswesens abzulehnen. Franco Cavalli
Es ist das genaue Gegenteil des jetzigen Krankenversicherungs-Systems, in dem wir Ärzte gewohnt sind, unendlich viele Formulare auszufüllen, ohne je mit einem Experten zu sprechen. Auf unsere Anfragen erhalten wir häufig unzureichende Antworten, insbesondere weil im Falle von kleinen Krankenkassen die Vertrauensärzte über keine ausreichenden Fachkenntnisse verfügen.
Eine öffentliche Krankenkasse hätte eine ähnliche Struktur wie die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung (AHV), die von allen Seiten als optimal gelobt wird, das heisst mit einer kantonalen Logistik und tripartiter Leitung auf Bundesebene mit Vertretern der Ärzteschaft, der Patienten und der Bundesverwaltung (wie auch bei der SUVA).
Ein demokratischeres System
Es handelt sich beim Vorschlag für eine öffentliche Krankenkasse also nicht um eine Verstaatlichung, sondern vielmehr um eine Demokratisierung des Systems, das günstiger und transparenter würde. Aus rationaler und logischer Sicht ist es schwierig, einen Grund zu finden, um diese Verbesserung unseres Gesundheitswesens abzulehnen. Es sei denn, man ist ein Manager einer privaten Krankenkasse.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)
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