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Einen Platz für Sterbehilfe finden

Das Schlafmittel Pentobarbital wird zuhause von Sterbewilligen eingenommen. (Bild bei Exit Schweiz 2008 aufgenommen) Keystone

In den letzten fünf Jahren hat in der Schweiz die Nachfrage nach Sterbehilfe um 60% zugenommen. Nun möchten Politiker den Zugang zur palliativen Behandlung verbessern, um die Furcht vor einem Tod voller Schmerzen zu lindern.

Die beiden wichtigsten Sterbehilfe-Organisationen in der Schweiz – Exit und Dignitas – halfen 2011 560 Personen zu einem selbstgewählten Ableben. Diese Zahl entspricht einem Drittel aller Suizide in der Schweiz. 

Politisch wird das Recht auf diese Art von Suizidhilfe von der Mehrheit der Stimmenden gestützt. Geteilter Meinung ist man jedoch über die Details, wie die Sterbehilfe zu handhaben ist. Letztmals im Kandon Waadt, als es um die Frage ging, ob Suizidhilfe auch in öffentlich finanzierten Alters- und Pflegeheimen beansprucht werden könne.

Angenommen wurde schliesslich der Gegenvorschlag der Kantonsregierung zur Volkinitiative der Sterbehilfe-Organisation Exit, wonach der Kranke nun nicht (mehr) allein ohne Pflegepersonal über seinen Tod entscheiden kann, dafür Sterbehilfe auch in Spitälern zugelassen ist.  

Gesamtschweizerisch vorgegeben ist, dass der Patient den Akt selbst vornehmen muss und Helfer  keine zugesicherten Interessen an dessen Ableben haben dürfen.

Palliativmediziner Andreas Weber, der jährlich rund 300 Patienten im Endstadium behandelt, weiss mehr als die meisten über die Wünsche und Bedürfnisse von Leuten, die dem Tod näher kommen.

Er schätzt, dass 20 dieser Patienten zwar seriös beabsichtigen, mittels Suizidhilfe zu sterben, aber nur einer oder zwei dies wirklich tun. Am kürzlich abgehaltenen Kongress des weltweiten Verbandes der Suizid-Organisationen in Zürich (World Federation of Right-to-Die Societies) sagte Weber, was diese Leute antreibt.

Furcht vor dem Leiden

Die beiden wichtigsten Gründe für das Beanspruchen von Sterbehilfe seien die Furcht zu Leiden, den Verwandten zur Last zu fallen oder in einem Heim zu enden, sagte er vor den Delegierten.

«Diese Personen befinden sich in einem Dilemma. Sie möchten die Welt nicht zu spät verlassen, weil sie dann bereits leiden, sie möchten aber auch nicht zu früh gehen, weil sie dann noch etwas schönes im Leben verpassen.» 

Werde die Furcht vor dem Leiden richtig angegangen, zeige sich, dass der Suizidwunsch zurückgeht: Webers Zürcher Palliativpflege verspricht Schmerzfreiheit bis ans Ende, oder Beruhigung bei Atemschwierigkeiten.

Diese Pflege umfasst auch eine 24-stündige Betreuung für den Sterbenden zuhause.    

Justizministerin Simonetta Sommaruga betonte am Kongress in Zürich die Rolle der Palliativpflege und sicherte Massnahmen auf landesweiter Ebene zu. Suizidhilfe sei zwar eine Möglichkeit, aber palliative Medizin bietet Patienten am Lebensende weitere Alternativen an. «Der Suizid-Entscheid sollte deshalb im Wissen dieser Alternativen vorgenommen werden», so Sommaruga.

Ausgeweitete Zielgruppe

Andreas Brunner, Zürcher Staatsanwalt mit einer langen Erfahrung in Fällen von assistiertem Suizid, kam auf den in den letzten Jahren aufgekommenen Trend der Ausweitung der Zielgruppe für begleitete Sterbehilfe zu sprechen. «Zuerst galt, dass begleitete Sterbehilfe für solche Patienten gedacht war, die unheilbar krank waren», so Brunner. «Dann ist der Begriff ausgeweitet worden auf die sehr stark Erkrankten, die extreme Schmerzen durchleiden.» 

Darauf habe man auch die Älteren eingeschlossen, die unter Alters- und/oder damit kombinierten Krankheiten litten, und jetzt sei Sterbehilfe eigentlich bald auch für die Gesunden offen. Die Schweizer Sterbehilfe-Organisationen seien somit auf ihre eigene Anweisungen angewiesen.

Der Staatsanwalt plädierte deshalb für eine Gesetzgebung für dieses Gebiet. Es gebe auch keine Richtlinien für die Auswahl, Ausbildung oder Überwachung von Sterbehilfe-Begleitern.

«Diese Organisationen sind nicht angehalten, auf einer Non-Profit-Basis zu wirtschaften, und unterliegen keinen wirtschaftsprüferischen Bedingungen», kritisiert Brunner. Sie seien auch nicht verpflichtet, ein Archiv über ihre Patientenfälle zu führen.

«Damit will ich nicht sagen, dass die bestehenden Organisationen diesen Verpflichtungen nicht nachkommen. Dennoch sollten solche Regeln verbindlich gemacht werden.» 

Sommaruga ging auf Brunners Kritik ein: «Der Bundesrat hat alle diese Vorschläge diskutiert und entschied im Juni 2011, dass das bestehende Gesetz genügt, um Missbräuchen vorzubeugen.» Es sei offensichtlich, dass jede diesen Organisationen auferlegte Bedingung oder Einschränkung das Recht auf Selbstbestimmung einschränke. Dies möchte der Bundesrat vermeiden. 

Welten entfernt – ein Gegenkongress

Vis-à-vis vom Kongresshotel in einem Klassenzimmer einer Sprachschule hielt eine kleine Gruppe von Anti-Euthanasie-Vertretern und Pro-Lebensschützer eine Gegenkonferenz. So sagte der Kanadier Alex Schadenberg gegenüber swissinfo.ch, er sehe im «organisierten Suizid» ein grundsätzliches Problem.

«Das Problem solcher Organisationen besteht darin, dass sie direkt und indirekt in den Tod anderer Leute einbezogen werden», so Schadenberg. «Sie sorgen für die Möglichkeiten und vielleicht auch für die Beratung. Die für den Schutz dieser Personen nötige Distanz ist verloren gegangen.» 

Am anderen Ende des Meinungsspektrums, im Kongress selber, setzte sich der kontroverse australische Arzt und Buchautor Philip Nitschke («The Peacefull Pill») für die so genannte DIY-Möglichkeit ein: «Hören Sie mit diesen legalistischen und medizinischen Einwänden auf und geben Sie den Betroffenen Informationen und Technologie, ihr Leben zu beenden, wenn sie dies wollen.»

Die Schweizer Gesetzgebung lässt Sterbehilfe zu, wenn die Patienten urteilsfähig sind, selber handeln und die Begleiter kein persönliches Interesse an ihrem Tod haben. Beihilfe zum Suizid ist in der Schweiz seit den 1940er-Jahren erlaubt.

Der Tod wird in der Regel durch eine tödliche Dosis von Barbituraten herbeigeführt, welche von einem Arzt verschrieben wurde. Die Einnahme des Gifts, ob es nun getrunken wird, intravenös oder durch eine Magensonde in den Körper gelangt, muss von der sterbewilligen Person selber ausgeführt werden.

Gemäss einem Urteil des Bundesgerichts in Lausanne aus dem Jahr 2006 haben alle Personen das Recht, über ihren Tod zu bestimmen. Das gilt auch für Menschen mit psychischen Störungen.

Der Bundesrat prüfte verschiedene Möglichkeiten, um die Sterbehilfe zu regeln. Im Juni 2011 entschied er, keine Gesetzesänderungen vorzunehmen, sondern stattdessen die Suizidprävention sowie die Palliativmedizin zu fördern.

Der kantonal unterschiedliche, «föderalistische» Zugang zur Sterbehilfe in der Schweiz zeigte sich kürzlich im Waadtland.

Die Waadt regelt seit Juni als erster Kanton die Sterbehilfe gesetzlich: 62% Ja zu begleitetem Suizid in Pflegeheimen und Spitälern, Nein zu einer Volksinitiative von Exit.

Die Patienten müssen an einer unheilbaren Krankheit oder an einem Unfall leiden und ein gesundes Urteilsvermögen haben.  

Der Entscheid, ob diese Kriterien erfüllt sind, obliegt dem Chef des Pflegepersonals oder dem Chefarzt.

Sterbehilfe-Organisationen wie Exit ist diese Lösung ein Dorn in Auge, weil sie in dieser ärztlichen Einmischung «einen inakzeptablen Bruch der persönlichen Freiheit und eine Art institutionalisierte Bevormundung» sehen.

(Übertragung aus dem Englischen: Alexander Künzle)

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