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Einst Gastarbeiter, dann Türken, jetzt Muslime

Zuerst waren sie in der Wahrnehmung jugoslawische Gastarbeiter, dann Kosovaren oder Bosnier, dann Asylsuchende, und jetzt sind sie Muslime: Flüchtlinge in Chiasso 1998. Keystone

Als Gastarbeiter wurden sie gerufen. Die ansässige Bevölkerung nannte sie Türken und Albaner. Heute werden sie pauschal Muslime genannt. Die "muslimische Minderheit" in der Schweiz ist laut einer Studie des Nationalfonds politisch und medial konstruiert.

Die «muslimische Minderheit» sei in den letzten Jahren in der Schweiz durch die öffentliche Kommunikation immer mehr als Bedrohung dargestellt worden. Das ist das Fazit einer Studie des Nationalfonds unter der Leitung der Professoren Patrik Ettinger und Kurt Imhof vom «Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft» der Uni Zürich.

Anhand der Berichterstattung über Kriege und Anschläge lasse sich zeigen, wie sich in der Schweiz das Bild der Muslime gewandelt habe, sagen die Autoren. Pauschalisierungen und Typisierungen hätten in den letzten Jahren in Politik und Medien bis zur Abstimmung über die Minarett-Verbots-Initiative zugenommen.

«In der Schweiz waren es weniger die Medienberichte über die Anschläge vom 11. September, als vielmehr jene über die Anschläge in Madrid und London sowie über den Karikaturenstreit. In den Berichterstattungen über diese Schlüsselereignisse hat sich langsam das Bild eines gewalttätigen Islams und eines Konflikts der Kulturen etabliert», sagt Patrik Ettinger gegenüber swissinfo.ch.

«Es waren insbesondere die Schweizerische Volkspartei (SVP) und in geringerem Masse die Eidgenössische Demokratische Union (EDU), die das Bild der Muslime aus dem internationalen Kontext in den nationalen Kontext transformierten.»

Die muslimischen Immigranten seien durch diese Einflüsse langsam zu «den Muslimen» geworden. Vorher, sagt Ettinger, habe man sie nach ihrer ethnischen Zugehörigkeit eingeteilt, es waren Türken, Bosnier, usw. «Ich glaube nicht, dass die muslimische Identität im Hintergrund schon da war. Ich bin der Meinung, dass erst durch diesen neuen Blick diese Zugehörigkeiten konstruiert wurden.»

«Selbstverständnis angekratzt»

Der Hintergrund, auf dem sich die Veränderung der Wahrnehmung vom türkischen Nachbarn zum Muslim vollzogen habe, sei das kulturelle Selbstverständnis der Schweizer. Dieses sei angekratzt, schreiben die Autoren. «Wir haben einen raschen sozialen Wandel in der Schweiz, mit einer Migration von Ober- und Mittelschichten, die den Schweizer Mittelstand verunsichert.»

Zudem fänden breite Diskussionen über die Positionierung der Schweiz in Europa und in der Welt statt, und die politische Elite der Schweiz werde diskreditiert, sagt Ettinger. «In diesem Kontext gibt es nun einen rechtspopulistischen Akteur, der diese Unsicherheit verstärkt und schürt und eine spezifische Definition des ‹Schweizerischen› durchsetzen will und Abgrenzungen gegenüber den Ausländern, den Muslimen vornimmt.»

Die Integrationsleistung der Schweizer werde allerdings zu wenig geachtet, stellen die Autoren der Studie fest. «Es gab auch während der Migration der Italiener in den 60er-Jahren allen Ernstes Ängste, dass die protestantischen Städte in der Deutschschweiz eine katholische Mehrheit bekommen könnten, durchaus ähnlich wie die jetzt geschürten Ängste einer Islamisierung der Schweiz», sagt Ettinger. «Und genauso wenig wie die katholischen Italiener und Spanier ihren Katholizismus fundamentalistisch interpretieren, macht das die muslimische Mehrheit auch nicht.»

Kritik von der SVP

In seiner Stellungnahme zur Studie sagt SVP-Generalsekretär Martin Baltisser gegenüber swissinfo.ch: «Die Berichterstattung über den Islam ist in der Studie von der realen Situation und der Wahrnehmung in der Bevölkerung weitgehend abgekoppelt.»

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Aus der Sicht seiner Partei sei die Studie «von zweifelhaftem Nutzen». Denn effektive Spannungsfelder würden heute in zunehmendem Masse existieren. 1970 hätten 16’000 Muslime in der Schweiz gelebt, 2010 seien es über 400’000 gewesen.

Es gebe einen realen Hintergrund für die öffentlichen Debatten: Integrationsfragen, Achtung der Rechtsordnung, das Verhalten im familiären, schulischen und behördlichen Umfeld einerseits, andererseits aber auch das Auftreten von Exponenten der islamischen Gemeinschaften. Die Studienautoren, so Baltisser, legten ein «eigenartiges Verständnis von Kausalität an den Tag»: Die Wechselwirkung der öffentlichen Wahrnehmung sei komplexer.

Zustimmung von Zürcher Imam

Demgegenüber findet der Imam des bosnischen Dzemats in Zürich, Sakib Halilovic, die Resultate der Studie zeigten in die richtige Richtung, und die Arbeit scheine ihm seriös gemacht. «Gerade die Aussage, dass es den Medien nicht gelungen sei, zwischen globalem Terror einerseits und dem Islam und den eben doch meist integrierten Muslimen in der Schweiz andererseits zu differenzieren, scheint mir zutreffend.»

Seit Jahren wehrt sich Halilovic gegen Pauschalurteile, die verunglimpfend wirken, wie er sagt, und gegen die er sich in Bosnien schon einmal, vor dem Krieg, wehren musste. Es sei ihm ein Rätsel, wie man Muslime aus völlig unterschiedlichen sozialen Schichten und anderen Welten wie Europa, Afrika oder Asien, egal ob hochqualifizierte Spezialisten oder flüchtende Asylsuchende, derart in denselben Islam-Topf werfe. «Nicht der Islam an sich ist das Problem.»

Ärger über Schweizer Konvertiten

«Nach dem 11. 9. 2001 wurde jeder Muslim plötzlich anders angeschaut, da hat die Studie recht», sagt Yahya Hassan Bajwa, der in Zürich ein Büro für interkulturelle Kommunikation führt, bereits die Primarschule in der Schweiz besucht hat und Mitglied des Aargauer Grossen Rates ist.

«Sogar mein langjähriger Arzt fragte mich damals, ob ich etwas mit Terrorismus zu tun hätte.» Die Art, wie die SVP politisiere, habe sicher einen direkten Einfluss auf das neue Feindbild «Muslime oder Islam», so Bajwa.

Dies habe sich bei der Minarett-Initiative gezeigt, bei der im Vorfeld alle Voraussagen falsch gelegen seien. Bajwa ärgert sich auch über jene Schweizer, die zum Islam konvertierten, entsprechend selbstsicher auftraten und mit radikalen Forderungen nicht nur dem Publikum der grossen Medien, sondern auch den meisten islamischen Organisationen missfallen hätten.

Die Medien würden oft nur schwarz-weiss malen, ohne Grautöne, und den Muslimen in ihrer Berichterstattung zu wenig Platz einräumen.

In der Schweiz leben rund 350’000 bis 400’000 Muslime.

Rund 12% sind Schweizer Staatsbürger.

Ihre Zahl hat in den letzten Jahren zugenommen. Ihr Anteil an der Bevölkerung stieg von 2,2% 1990 auf 4,3% im Jahr 2000.

In der Schweiz sind drei Viertel der Bevölkerung Christen. Davon sind 42% Katholiken, 35% Protestanten und 2,2% andere christliche Bekenntnisse.

Die Mehrheit der Muslime in der Schweiz sind Südosteuropäer und Türken, die in der Deutschschweiz leben.

Ihre Gemeinden sind meist sprachlich organisiert, wie früher die katholischen Einwanderer ebenfalls. Der Aufbau der religiösen Institutionen ist auch bei anderen Muslimen ähnlich.

Ein Imam entspricht von der Funktion her einem Pfarrer (oder einem Rabbiner): Er predigt nicht nur, sondern trägt die Verantwortung für eine Gemeinde.

Südosteuropäer sind fast alle Sunniten. Unter den Türken gibt es auch viele Alewiten.

Schiiten gibt es kaum unter den Europäern, es ist die Glaubensrichtung vieler Iraker und der Iraner.

Die Mahmud-Moschee in Zürich ist die einzige in der Deutschschweiz mit Minarett.
Sie gehört einer kleinen pakistanischen Bewegung, der Ahmadiyya.

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