Einst «Weggesperrte» sind moralisch rehabilitiert
Justizministerin Eveline Widmer-Schlumpf hat ehemalige unschuldig eingesperrte Jugendliche an einem Gedenkanlass in der Strafanstalt Hindelbank im Kanton Bern am Freitag offiziell um Entschuldigung gebeten.
In die Frauenstrafanstalt Hindelbank wurden weibliche Jugendliche aus der ganzen Deutschschweiz und dem Tessin eingewiesen, mit Begründungen, sie seien «liederlich, arbeitsscheu oder aufrührerisch».
Insgesamt wurden in der Schweiz bis 1981 Tausende Jugendliche von Vormundschaftsbehörden in geschlossene Anstalten eingewiesen – «administrativ versorgt» -, weil sie sozial auffällig geworden waren. Ohne eine Straftat begangen zu haben, ohne richterliches Urteil wurden sie oft jahrelang weggesperrt. Unter dem Stigma leiden sie bis heute.
Eine Gruppe ehemaliger administrativ versorgter Frauen hatte den als «moralische Wiedergutmachung» organisierten Anlass in Hindelbank angeregt.
Moralische Wiedergutmachung
«Ihnen wurde viel Leid angetan. Ihre Jugend können wir Ihnen nicht zurückgeben», sagte die Justizministerin am Freitag zu den rund zwei Dutzend Betroffenen im Schlosssaal der Strafanstalt Hindelbank. «Wir sind weder Richter noch Historiker. Es geht uns um den Respekt Ihnen gegenüber, um moralische Wiedergutmachung.»
Entschuldigungen würden meist im privaten Umfeld ausgesprochen, aber manchmal sei eine öffentliche Entschuldigung wichtig, fuhr Widmer-Schlumpf fort.
«Im Bewusstsein, dass Vergangenes nicht ungeschehen gemacht werden kann, möchte ich Sie um Entschuldigung bitten dafür, dass Sie ohne richterliches Urteil in Strafanstalten gebracht, weggesperrt worden sind, ohne eine Straftat begangen zu haben.»
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Appell an Justiz und Gesellschaft
An dem Gedenkanlass in Hindelbank hatten zuvor drei Betroffene von ihren Erfahrungen berichtet. Sie betonten dabei den Umstand, dass sie aufgrund der Einweisung in die Strafanstalt ein Leben lang ausgegrenzt und diskriminiert wurden.
Ursula Müller-Biondi, die mit 17 Jahren und im fünften Monat schwanger in Hindelbank eingesperrt wurde, sagte: «Mein Appell richtet sich an die Justiz und an die Gesellschaft: Lasst so etwas nicht noch einmal geschehen!»
Auch Hans Hollenstein, Vizepräsident der Konferenz der Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) betonte, dass sich solche Schicksale keinesfalls wiederholten dürfen: «Als Mensch Hans Hollenstein und im Namen der Konferenz tut es mir sehr leid, was Ihnen geschehen ist, und ich bitte Sie, dies zu entschuldigen.»
Von den Behörden äusserte sich auch Hans-Jürg Käser, Vertreter der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und –direktoren (KKJPD). Er wies darauf hin, dass in den Nachkriegsjahren fast die Hälfte der in Hindelbank eingesperrten Frauen administrativrechtlich eingewiesen war.
«Aus heutiger Sicht kann ich Ihnen versichern, dass keine Person mehr in einem Gefängnis festgehalten wird, solange kein rechtsgültiger Einweisungsbeschluss vorliegt», sagte Käser.
«Ich bin so glücklich»
Die Erleichterung und Freude unter den Betroffenen war gross nach den offiziellen Entschuldigungen. Besonders Ursula Müller-Biondi war überwältigt. Immer wieder kamen ihr fast die Tränen. «Es ist wahnsinnig», sagte sie gegenüber swissinfo.ch. «Seit zehn Jahren habe ich dafür gekämpft, und jetzt ging alles plötzlich so schnell.»
Besonders die Erklärungen und die Entschuldigung der Justizministerin hätten sie überrascht: «Ich bin an ihren Lippen gehangen und habe genau aufgepasst, ob sie sich herausreden würde. Aber nichts davon. Ganz klare Worte.»
Dennoch seien längst nicht alle Probleme gelöst, sagt Biondi: «Es gibt Opfer von damals, die immer Opfer geblieben sind. Für sie bedeutete Hindelbank die Endstation. Selbst als sie aus dem Gefängnis herauskamen, konnten sie bis heute nie mehr ein normales Leben führen. Ihnen wollen wir helfen, die Gegenwart etwas erträglicher zu machen.»
Inwiefern es dabei auch im finanzielle Wiedergutmachung gehe, lies Biondi offen. Dies werde noch diskutiert.
Dann fällt sie einer Mitstreiterin um den Hals und ruft strahlend aus: «Ich bin so glücklich. Das hätte ich so nicht erwartet. Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens.»
Von 1942 bis 1981 wurden in der Schweiz Tausende Jugendliche in Strafanstalten und geschlossene Erziehungsanstalten eingewiesen, ohne dass sie eine Straftat begangen hatten.
Für eine Versorgung genügte es, dass sie den Vormundschafts-Behörden als sozial auffällig, liederlich, verwahrlost oder arbeitsscheu aufgefallen waren.
Die Zahl der administrativ Versorgten zu ermitteln, ist schwierig, da zahlreiche Dossiers vernichtet wurden.
In den letzten Jahren sind immer mehr der einst betroffenen Frauen an die Öffentlichkeit getreten und haben auf das Unrecht aufmerksam gemacht.
Obwohl die meisten der administrativ Versorgten Männer waren, haben nur wenige von ihnen die Öffentlichkeit gesucht.
Dominique Strebel, Jurist und Redaktor beim Beobachter, ist den Geschichten nachgegangen und hat seine Erkenntnisse in einem Buch publiziert: „Weggesperrt. Warum Tausende in der Schweiz unschuldig hinter Gittern sassen“, erschienen im Beobachter-Buchverlag.
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