Entscheid über die Homoehe: Gelebte Demokratie oder Akt der Diskriminierung?
In der Schweiz entscheidet das Stimmvolk darüber, ob die Ehe allen offen stehen soll und damit über ein Grundrecht. Hoch problematisch, findet das ein deutscher Philosoph, ganz normal ein Schweizer SVP-Politiker und Rechtsprofessor.
Für Rainer ForstExterner Link ist Demokratie «die politische Praxis, um gemeinsam zu allgemein gerechtfertigten Normen zu kommen», und die Grundlage dafür ist «der Respekt unter Gleichen». Forst ist Professor für Politische Theorie und Philosophie in Frankfurt am Main. Was sagt er dazu, wenn ein Land über die individuellen Freiheiten einer Minderheit abstimmt? So wie die Schweiz, die am 26. September entscheidet, ob homosexuelle Paare heiraten, Kinder adoptieren und Fortpflanzungsmedizin nutzen dürfen.
Wenn die individuellen Grundrechte einer Minderheit zur Debatte stünden, handle es sich um eine «vertikale Abstimmung», sagt Forst. Dabei werde der Mehrheit die Macht gegeben, Grundrechte zu gewähren oder sie zu verweigern. Der demokratische Prozess werde so für die Vormachtstellung einer Mehrheit missbraucht.
Forst plädiert deshalb dafür, mit dem Begriff Toleranz vorsichtig umzugehen. Denn oft verberge sich darin der Anspruch, «anderen sagen zu dürfen, dass sie leben können, wie sie möchten, dass sie deswegen aber nicht die gleichen Rechte haben.» Er erkennt darin das Erbe der autoritären «Erlaubnis-Toleranz», wie sie sich in der Geschichte immer wieder zeigt. So durften etwa die Hugenotten im 16. Jahrhundert nur in bestimmten Gegenden ihrer Religion nachgehen und ihre Kirchen nur unter gewissen Bedingungen bauen. Ähnlich erging es jüdischen Gemeinden. «In der Gegenwart sind wir wieder soweit bei den Minaretten und der Gleichstellung der LGBTQ», sagt Forst.
«Bürger:innen zweiter Klasse»
In diesem hierarchischen Sinne ist der Begriff der Toleranz für Forst problematisch, weil sich nicht Gleichberechtigte begegnen, sondern eine Mehrheit die Minderheit lediglich duldet. Er sieht darin eine Gefahr für die Demokratie, das multikulturelle Zusammenleben und die Geschlechtergerechtigkeit – oder an Goethe anschliessend: «Diese Toleranz ist eine ‘Beleidigung’, denn die Tolerierten sind Bürger zweiter Klasse.»
Toleranz als Begriff wird erst dann wertvoll, wenn er notwendig mit Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Menschenrechten verbunden ist. Umso wichtiger sei es, dass – nach erheblichen Debatten – auch der Konservatismus die Prinzipien des multikulturellen Zusammenlebens und der Geschlechtergerechtigkeit zu akzeptieren lerne, sagt Forst. Aber die Zukunft der Demokratie hänge davon ab, dass sie «ihre soziale Gestaltungsmacht» als Praxis der Gerechtigkeit bewahrt.
«Toleranz ist eine Tugend, wenn sie weh tut»
In diesem Verständnis kann eine Gesellschaft nur funktionieren und gerecht sein, wenn die Mehrheit Normen und Werte nicht in Gesetzen festschreibt, die Grundrechte verletzen. Forst plädiert stattdessen für eine «Respekt-Toleranz», welche die Minderheiten als gleichberechtigt anerkennt. Das sei keine Bedrohung für die dominanten Werte in irgendeinem Land, denn das Recht zu heiraten werde ja nicht in Frage gestellt. Und das heisse auch nicht, dass man nicht selbstbewusst die Normen der Gerechtigkeit, der Gleichberechtigung, der Demokratie und der Menschenrechte einfordern könne. «Aber wenn wir es tun, sollten wir uns besser auch selbst daranhalten.»
Toleranz sei eine Tugend, wenn sie weh tue, sagt Forst. «Aber der Schmerz der Ungerechtigkeit ist der Schlimmere.»
«Die Abstimmung ist eine Bestätigung des Mehrheitsprinzips»
Hans-Ueli VogtExterner Link, Schweizer Rechtswissenschaftler und SVP-Nationalrat, spricht in Bezug auf die Abstimmung über die Ehe für alle von einem Schweizer Normalfall. «In einem demokratischen System, in dem das Mehrheitsprinzip herrscht, entscheidet immer die Mehrheit. Natürlich wird dadurch mitunter in die Interessen und die Rechte der unterlegenen Minderheit eingegriffen», sagt er. Das passiere zum Beispiel auch, wenn neue Staatsausgaben beschlossen würden, denn auch da müsse die Minderheit mitbezahlen und werde in deren Grundrechte, wie namentlich die Eigentumsgarantie, eingegriffen.
«Eine praktische Notwendigkeit»
Für Vogt ist das Mehrheitsprinzip nicht etwas Schlechtes, sondern eine praktische Notwendigkeit: «Wer soll sonst entscheiden, wenn nicht die Mehrheit?» Die Minderheit könne nicht über die Mehrheit entscheiden.
Zudem wechselten diese Mehrheiten in der Schweiz ständig. «Die Minderheit» gebe es in der Schweiz nicht. So komme es vor, dass an einem Abstimmungssonntag eine Gruppe eine Vorlage gewinne und das gleiche politische Lager am gleichen Tag bei einer anderen unterliege. Es bestehe also keine Gefahr für die Schweizer Demokratie, da die Mehrheit keine feste Grösse oder eine immer gleiche Gruppierung sei, die über eine bestimmte Minderheit entscheide. Stattdessen hänge der Ausgang von Urnengängen stets von der jeweiligen politischen Konstellation und vom konkreten Geschäft ab.
Die Rechtsordnung als Leitkultur
«Das Schöne am Schweizer System» sei, dass diese Rechtsordnung nicht von einem Diktator verfügt, sondern von den Bürgern geschaffen sei und auch relativ einfach verändert werden könne. So werde die politische Ideologie der variierenden Mehrheiten immer wieder von Neuem zu einer normativen Ordnung, einer Leitkultur, die gerade dank dem hohen Mass an politischer Partizipation der Bürger eine offene Leitkultur sei.
Und auch wenn der Begriff der «Leitkultur» politisch negativ konnotiert sei, habe er überhaupt kein Problem damit, sagt Vogt. «Deren Werte kommen dann in der Rechtsordnung eines Staates zum Ausdruck.» So sei zum Beispiel als Teil der Leitkultur im Gesetz verankert, dass eine Mehr-Personen-Ehe nicht erlaubt sei, sondern die Ehe zwischen zwei Personen eingegangen wird.
Nicht zuletzt, sagt Vogt, werde die Abstimmung über die Ehe für alle gemäss den letzten Umfragen wohl angenommen. «Und damit wird sich die Leitkultur und die entsprechende normative Ordnung ändern», sagt Vogt.
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