«Ich bin ab dem ersten Tag im Gefängnis in einen Hungerstreik getreten»
Tausende von abgewiesenen Asylsuchenden werden in der Schweiz jedes Jahr inhaftiert, bevor sie abgeschoben werden. SWI swissinfo.ch hat mit zwei Betroffenen über ihre Erfahrungen gesprochen.
In der Schweiz ist es wie in vielen europäischen LändernExterner Link möglich, dass jemand eingesperrt wird, auch wenn er oder sie kein Delikt begangen hat: Das Ausländer- und IntegrationsgesetzExterner Link erlaubt den Kantonen, abgewiesene Asylsuchende vor deren Ausweisung zu inhaftieren.
Diese spezifische Zwangsmassnahme im Asyl- und Ausländerbereich wird als Administrativhaft bezeichnet. Die maximale Haftdauer beträgt für Erwachsene 18 Monate, für Minderjährige im Alter zwischen 15 und 18 Jahren 15 Monate.
Die Inhaftierung von Minderjährigen unter 15 Jahren ist gesetzlich verboten. Der Griff zur Administrativhaft wird von Kanton zu Kanton sehr unterschiedlich gehandhabt. Zwischen 2011 und 2017 wurde die Massnahme aber in der ganzen Schweiz im Durchschnitt 5800 Mal pro JahrExterner Link angeordnet.
Wir trafen zwei Personen, die in Genf in Administrativhaft sassen und bereit waren, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Da ihre Asylverfahren derzeit noch nicht abgeschlossen sind, beschlossen wir, ihre Namen nicht vollständig bekannt zu geben.
«Ich sah diesen winzigen Gefängnishof»
Ali kam 2015 in die Schweiz, vier Monate später wurde sein Asylantrag abgelehnt. Die Behörden forderten ihn auf, nach Genf zu kommen, um auf seine Rückführung nach Spanien zu warten, dem Land, durch das er gereist war, und das gemäss Dublin-AbkommenExterner Link für sein Asylgesuch zuständig war.
In Genf war er in einem Heim untergebracht, als er mitten in der Nacht geweckt wurde: «Vier Polizisten kamen in mein Zimmer, legten mir Handschellen an und packten meine Taschen. Sie brachten mich zum Flughafen und steckten mich in eine Zelle. Später setzten sie mich in ein Flugzeug.»
«Vier Polizisten kamen in mein Zimmer, legten mir Handschellen an und packten meine Taschen. »
Ali hatte Angst davor, nach Spanien zu gehen, weil die dortige Botschaft seines Herkunftslandes bekannt dafür ist, ausgewanderte Landsleute zu bedrohen und anzuprangern. Er bat, mit dem Piloten sprechen zu dürfen und erklärte diesem, wieso er sich weigere, auszureisen. Der Pilot liess ihn schliesslich kurz vor dem Abflug aus dem Flugzeug steigen.
«Die Polizisten waren sehr wütend», erzählt Ali. «Sie drohten mir und sagten, dass ich beim nächsten Mal nicht wie ein normaler Passagier unterwegs sein würde, sondern gefesselt, mit einer Kapuze über dem Kopf.»
Er wurde in eine Haftanstalt mit anderen Asylsuchenden gebracht, die vor der Abschiebung stehen. «Ich sah dieses abgeschlossene Gebäude, mit bloss einem winzigen Innenhof, wo man sich rund eine Stunde pro Tag bewegen kann. Ich bin am moralischen Tiefpunkt angelangt; es war wirklich schrecklich, hier zu sein. Ich bin noch am Tag, an dem ich in diesem Gefängnis ankam, in einen Hungerstreik getreten.»
Ali hörte auf, zu trinken und zu essen. Nach drei Tagen fiel er in Ohnmacht und verbrachte eine Nacht im Spital, wo ihm die Ärzte Serum spritzten, damit er wieder zu Kräften kam.
Doch er ass weiterhin nichts, und nach zwei Wochen hatte er acht Kilos verloren. Er erlitt erneut einen Schwächeanfall und wurde wieder ins Spital gebracht; dieses Mal ins Untergeschoss, in einen für Häftlinge reservierten geschlossenen und bewachten Raum.
«Man denkt, dass die Schweiz Ausländer eher gut behandelt. Aber es gibt sehr schwierige Situationen, die man nicht zeigt.»
Dank einem Vorstoss seines Anwalts beim Staatssekretariat für Migration (SEM), der Mobilisierung der Gefängnisgeistlichen und der Intervention seiner Schwester, die in der Schweiz lebt, wurde Ali nach einigen Tagen schliesslich freigelassen. Und in ein Bett auf den oberen Etagen des Spitals verlegt.
«Man denkt, dass die Schweiz Ausländer eher gut behandelt. Aber es gibt sehr schwierige Situationen, die man nicht zeigt», erklärt Ali. «Flüchtlinge verlassen ihre eigenen Länder, weil sie sehr schlimme Sachen erlebt haben, sie sind keine Kriminellen. Sie sollten nicht so behandelt werden.»
Das SEM stimmte schliesslich zu, seinen Asylantrag zu überprüfen. Ali wartet immer noch auf den definitiven Entscheid, ob er langfristig in der Schweiz bleiben kann.
«Ich verstand nicht, weshalb ich im Gefängnis war»
Mohamed hatte vor etwa fünf Jahren in der Schweiz um Asyl gebeten. Sein Gesuch war rasch zurückgewiesen worden, denn er war durch Italien gekommen und musste im Rahmen des Dublin-AbkommensExterner Link für sein Verfahren dorthin zurückkehren. Vor seiner Ausschaffung sass er drei Monate in Genf in Haft.
«Ich war sehr überrascht, ich verstand überhaupt nicht, weshalb ich im Gefängnis war, nachdem ich doch nur um Asyl gebeten hatte», erklärt er. Vor allem da er nicht gut Englisch sprach, und Dolmetscher eher selten waren. Später wurde ihm klar, dass er eingesperrt worden war, weil er keine Papiere hatte, um in die Schweiz einzureisen.
Mohamed wurde nach Italien zurückgeschafft, wo er nicht sehr lange blieb. Er wollte nach Deutschland, weil er dort Familienangehörige hatte. Und kam wieder durch die Schweiz.
Hier wurde er kontrolliert, festgenommen und erneut nach Genf geschickt. Dort sass er noch zweimal in Haft, einmal für eineinhalb Monate, einmal für zwei Monate, bevor er schliesslich freigelassen und vorerst nicht mehr zurückgeschickt wurde. «Das Schwierigste ist, dass man nicht wirklich versteht, warum, dass man das System einfach nicht versteht», erklärt er.
«Das Schwierigste ist, dass man nicht wirklich versteht, warum, dass man das System einfach nicht versteht.»
Mohamed war auch in Eritrea im Gefängnis und räumt ein, dass die Haftbedingungen in der Schweiz besser sind: «Aber, Gefängnis ist Gefängnis, man wird seiner Freiheit beraubt.» Mohamed möchte nur die Chance haben, irgendwo in Ruhe zu leben. «Ich bin noch jung, ich werde Dinge ausprobieren können, ich werde weiter versuchen, voranzukommen.»
Das SEM stimmte zu, seinen Asylantrag zu prüfen, hat aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen.
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch