Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

«Es ist so leicht, das falsch zu interpretieren»

Rudolf Steiner (1913) hinterliess ein immenses, bis heute umstrittenes Werk. RDB

War Rudolf Steiner ein Scharlatan oder das letzte Universalgenie? Clown Dimitri, Absolvent der anthroposophischen Steinerschule, würdigt den Esoteriker, Begründer der Anthroposophie, des biologisch-dynamischen Landbaus, der 150 Jahre alt würde.

swissinfo.ch: Herr Dimitri, wären Sie der Clown Dimitri, wenn Sie nicht die Steinerschule besucht hätten?

Dimitri: Das ist eine lustige Frage. Ich glaube, ich wäre bestimmt das geworden, was ich jetzt bin. Vielleicht ein klein bisschen verschieden, aber ich glaube nicht, dass eine Schule den Beruf oder das Schicksal so sehr beeinflussen kann. 

swissinfo.ch: Die Steinerschule gibt keine Noten, sie praktiziert sanftes Lernen durch weniger starken Leistungsdruck und misst den Fächern Musik und Kunst eine grosse Bedeutung zu. Damit unterscheidet sie sich deutlich von der staatlichen Schule. Ist Ihnen das entgegengekommen?

D.: Aus diesem Grund schickten mich meine Eltern für das 10. Schuljahr nach Zürich in die Steinerschule. Im Tessin gab es noch keine solche Schule. Zudem hatte ich bereits eine anthroposophische Jugend. Meine Eltern waren Künstler und ich konnte das Musische sehr pflegen.

Ich kam ja vom Land, von Ascona. Und die Stadt hat mir auch gut getan. Aber auch die Kollegen, die ich kennenlernen durfte. Mit einigen bin ich immer noch befreundet, zum Beispiel mit Klaus Knuth, dem Sohn des berühmten Schauspielers Gustav Knuth.

Die Steiner- und Waldorfschulen sind in der heutigen Welt so wichtig, weil sie nicht nur auf das Intellektuelle schauen, sondern auch auf das Musische, das Menschliche, das Kreative. Und das bewährt sich, denn die Steinerschüler machen wunderbare Matur-Abschlüsse und schneiden überall bestens ab. 

swissinfo.ch: Gab es an der Steinerschule auch etwas, das Sie nicht so toll fanden?

D.: Nein, obwohl ich hie und da mal kritische Stimmen höre. Natürlich kann es an einem Lehrer liegen, dass es nicht so gut funktioniert zwischen Schüler und Lehrer. Aber das ist in allen Schulen so. 

swissinfo.ch: Sie fühlten sich also «richtig» aufs Leben vorbereitet?

D.: Bestimmt, natürlich auch, weil schon meine Mutter Anthroposophin war. Und auch die ganze Erziehung spielte mit. Zudem waren unter unseren Freunden viele Anthroposophen. Denn nicht nur die Schule allein ist wichtig, sondern die ganze Umgebung.

So haben wir auch unsere Kinder in die Steinerschule geschickt und eigentlich nur schöne und gute Erfahrungen gemacht. 

swissinfo.ch: Sind Sie bekennender Anthroposoph?

D. Ich habe immer Hemmungen, das so zu sagen. Ich bin nicht Mitglied der anthroposophischen Gesellschaft, denn ich bin gerne total frei und unabhängig. Aber das Schöne ist, dass die Anthroposophie nicht darauf besteht.

Man fühlt sich nie irgendwie gezwungen, dass man beitreten müsste. Die Freiheit, die man da spürt, finde ich wunderbar. 

swissinfo.ch: Also haben Sie nicht den Eindruck, die Anthroposophen seien eine Sekte, wie das auch manchmal behauptet wird?

D.: Nein, dieses Gefühl hatte ich nie. Obwohl ich auch Anthroposophen kennen gelernt habe, die Steiner selber als Anthropotanten bezeichnen würde.

Aber das finde ich verzeihlich. In allen Religionen, in allen Philosophien gibt es Leute, die fundamentalistische Züge aufweisen. Aber 95% der Anthroposophen, die ich kennen gelernt habe, sind wunderbare, offene Menschen, mit denen man über alles reden kann. 

swissinfo.ch: Es gibt bei Steiner aber doch ein paar dunkle Flecken. Bei Aussagen wie «Die weisse Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse» wirft man ihm Rassismus vor. Sehen Sie dies auch so?

D.: Das habe ich auch alles mit verfolgt, gelesen und gehört. Die Interpretationen aus Steiners Aussage, die Schwarzen wären eine andere Rasse, wären weniger intellektuell als weisse, machen mich sehr traurig. Denn er sagt damit überhaupt nicht, dass diese menschlich weniger wert seien, sondern, dass sie eine andere Kultur hätten, eine andere Vergangenheit. Es ist so leicht, das falsch zu interpretieren. Und nur jene Sätze herauszupicken, die eventuell rassistisch tönen könnten, finde ich gemein. 

swissinfo.ch: Andere kritisieren, Rudolf Steiner sei nicht «christlich»…

D.: Steiner hat viel über Christus und das Christentum geschrieben und er hat geholfen, die Christengemeinschaft zu gründen. Ich glaube, es gibt keinen grösseren Christen, als Rudolf Steiner.

Viel Kritik kommt von Leuten, die überhaupt noch nichts von Steiner gelesen haben. 

swissinfo.ch: Alles zu lesen ist ein grosses Vorhaben, er war sehr produktiv.

D.: Ja, unglaublich. Ich war als Junge schon interessiert an geistigen Themen, wie Einweihungen im alten Ägypten, Tibetaner, Buddhisten oder Mönche, Yogis.

Steiner spricht darüber sehr klar. Er hat eine wunderbare Gabe, Dinge aus mehreren Blickwinkeln zu erklären. Auch ich, als Clown, als naiver Dummkopf, verstehe ihn.

swissinfo.ch: Steiner war ja äusserst vielseitig, nicht nur im geistlich-geistigen Bereich, auch der biologisch-dynamische Anbau oder die Medizin hat er geprägt.

D.: Ja, der biologisch-dynamische Landbau hat schon sehr früh begonnen. Und heute endlich sieht man, dass die biologische, absolut ohne Chemie gemachte Landwirtschaft die einzige Lösung überhaupt ist. Vergessen wird, dass Steiner das schon vor 80, 90 Jahren gesagt hat.

So auch in der Medizin. Wie die Ärzte in der Lukasklinik in Arlesheim eigene Lösungen finden und mit der modernen Medizin kooperieren, finde ich sehr beeindruckend. Sie sind nicht gegen eine Operation, wo eine nötig ist. Aber sie helfen auch, die Heilung mit anderen Mitteln zu fördern.

swissinfo.ch: Um auf Rudolf Steiner zurück zu kommen: Würden Sie ihn als eines der letzten Universalgenies unserer Zeit bezeichnen?

D.: Er war einer der wichtigsten Menschen. Ich weiss nicht, ob man ihn Philosoph nennen soll, oder Erneuerer, oder Eingeweihter, oder Helfer, Denker, Schriftsteller, Poet, Künstler.

Als Clown möchte ich die grosse Skulptur im Goetheanum in Dornach erwähnen, die Steiner selber aus Holz gestaltet hat. In der Mitte ist die grosse Christusfigur und links oben, da ist der Weltenhumor.

Das finde ich etwas Wunderbares, es spielt auf meine Mühle, denn der Humor ist für uns Clowns sehr wichtig. Für Steiner war der Humor ein enorm wichtiges Element.

Geboren 1935 in Ascona, im Tessin
Vater war Bildhauer und Architekt, Mutter war Kunsthandwerkerin und Anthroposophin.
Dimitri absolvierte 10. Schuljahr an Steinerschule in Zürich.
Danach Töpferlehre und Schauspiel-, Musik-, Ballett- und Akrobatik-Unterricht.
1955: Pantomime-Studium in Paris.
1957: Mitglied der Truppe des Pantomimen Marcel Marceau.
Ab 1958: Auftritte mit Clown Maïsse und im Zirkus Medrano in Paris.
1959: erstes Soloprogramm.
1961: Heirat mit Gunda Salgo.
1971: Gründung des Theaters in Verscio im Tessin.
1975: Gründung Scuola Teatro Dimitri, heute Hochschule für Bewegungstheater und Theaterkreation.
1976: Hans Reinhart-Ring.
1978: Compagnia Teatro Dimitri.
2005: Ehrenbürger von Verscio

27. Februar 1861: Rudolf Josef Steiner wird im damals österreichischen (heute kroatischen) Kraljevek geboren.
1878-83: Studium an der Technischen Hochschule Wien. Hauptfächer: Physik, Botanik, Zoologie, Chemie, Nebenfächer Literatur, Geschichte, Philosophie.
1882: Herausgeber von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften.
1884-90: Hauslehrer.
1890-97: Mitarbeiter am Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar.
1891: Promotion zum Dr. phil.
1893: Steiners philosophisches Hauptwerk: «Die Philosophie der Freiheit».
1895: Monografie «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit.
1897: «Goethes Weltanschauung» – Zusammenfassende Darstellung Steiners Goethe-Studien.
1898-1905: Vorträge, Begegnungen mit Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig, Käthe Kollwitz, Frank Wedekind.
1899-1904: Heirat mit Anna Eunike. Lehrtätigkeit an der Arbeiterbildungsschule in Berlin.
1900-1904: 1. & 2. Band «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», «Theosophie» – zentrales Werk für die Anthroposophie.
1902 -12: Aufbau diverser theosophischer Logen, Vortragsreihen, Freundschaft mit Christian Morgenstern.
1910-13: Entwicklung einer neuen Bewegungskunst (Eurythmie), Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft.
1913-19: Errichtung des Goetheanums in Dornach bei Basel, diverse künstlerische Arbeiten,
1917; «Von Seelenrätseln»- Steiners Forschungsergebnisse über die Dreigliederung des menschlichen Organismus.
1919: Erste Freie Waldorfschule in Stuttgart.
1920-25: Vorträge in Europa, Entstehung anthroposophischer Forschungsinstitute, Kliniken und Schulen.
Silvesternacht 1992/23: Goetheanum durch Feuer zerstört. Steiner plant neues, in Beton gefertigtes (Fertigstellung 1928).
1924-25: Krankheit Rudolf Steiners, Autobiografie «Mein Lebensgang», in Zusammenarbeit mit der Ärztin Ita Wegmann «Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst».
30. März 1925: Rudolf Steiner stirbt in Dornach.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft